Zwischen Beschönigen und Wegschauen

Kinderarmut Ohne Frühstück in die Kita, keine Klassenfahrten, kein Sport- oder Musikverein. Für viele Kinder leider Alltag. Eine Studie hat sich damit beschäftigt

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Ein Kind isst bei der Tafel. Dass es zu Hause kein Frühstück gibt, ist für viele Kinder leider Alltag
Ein Kind isst bei der Tafel. Dass es zu Hause kein Frühstück gibt, ist für viele Kinder leider Alltag

Foto: Christof Koepsel/Getty Images

„Es geht weniger um absolutes Elend und Verhungern, sondern mehr um Entbehrungen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Verhältnis zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensstandard.“

Besänftigende Worte von Prof. Dr. Michael Klundt – gerichtet an jene, die sich schon Hufe scharrend gegen vermeintliche „das-Land-schlecht-Redende“ in Stellung bringen. „Kinderarmut und Reichtum in Deutschland“ – so der Titel der maßgeblich von Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal, verfassten Studie, die vor wenigen Tagen in Berlin vorgestellt wurde. Herausgeber sind die Rosa Luxemburg Stiftung, die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei und das im Dezember 2016 auf Bundesebene gegründete "Netzwerk gegen Kinderarmut".

„Wenn fast alle zum Beispiel über einen Kühlschrank, einen Schulranzen, diverses Spielzeug, Malstifte oder einen Fernseher verfügen, ist es ungerecht, wenn manche davon ausgeschlossen werden“

... stellt der ehemalige wissenschaftliche Fachreferent der LINKEN-Bundestagsfraktion in einem einleitenden Interview fest.

60 Seiten. 33.000 Worte. Jedoch „keine neuen, zusätzlichen Daten zum Ausmaß, den Folgen, Ursachen und Gegenmaßnahmen bezüglich Kinderarmut und Reichtum“ – das wird gleich in der Einleitung festgestellt. Klundt greift vielmehr – „im Sinne einer Sekundäranalyse und Synthese“ - eklektisch in den vor allem bundesrepublikanischen Wissenspool und fischt die Leckerlies an Zahlen und Fakten, Zitaten und Thesen, zu ergreifenden Maßnahmen und Alternativen heraus. Das Ganze mündet in der Erkenntnis:

„[…] die Beweise für das gravierende Ausmaß von Kinderarmut und sozialer Polarisierung [...] erbringen die Regierenden […] weitgehend von ganz alleine.“

Daraufhin bemüht Klundt den Armutsforscher und linken Bundespräsidentschafts-Kandidaten Prof. Dr. Christoph Butterwegge, demzufolge das Armutsproblem „womöglich eher eine Frage der Taten, als der Daten ist.“

Die Studie liest sich schwer - das wissen auch die Herausgeber. Vorangestellt sind ein Vorwort von Butterwegge sowie eben jenes Interview mit Klundt, in dem er das Wesentliche nochmal auf anderthalb Seiten in gehobenem Gymnasiasten-Deutsch darstellt. Dann Seite 10, Schriftgröße 30+, fettgedruckt: „Kinderarmut und Reichtum in Deutschland“ – die eigentliche Studie beginnt. „Ene, mene, muh, und raus bist du?“ ziert die obere rechte Ecke. Zynisch, mag manch einer schreien. Passend, manch anderer. Wieder anderen mag die Parallele zur NRW-Initiative „Kein Kind zurücklassen!“ auffallen.

Und doch aktiviert der frech anmutende Spruch des „Netzwerks gegen Kinderarmut“ ein Frame, also einen sprachlichen Deutungsrahmen, der vor allem Spiel und Spaß, Glück und gemütliche Abende im Gehirn aktiviert. Ein fataler Fehlgriff. Denn wer bei dem Abzählreim in Kinderzeiten „rausflog“, der durfte wahlweise die Spülmaschine ausräumen, musste der kleinen Schwester das heiß erhoffte Stück Küchen abgeben oder unter kindlichen Versagensängsten der Erste sein, der beim Versteckspiel die Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt und bis 30 zählt. Heute sind viele Kinder auf eine andere Art und Weise "raus" – raus aus dem immer löchrigeren Sozialstaat, ja viele sogar raus aus der Wohnung. 29.000 kleine Kinderherzen wachen jeden Morgen auf, ohne zu wissen, unter welchem Dach sie und ihre Mamas, Papas und Geschwister abends schlafen werden. Eine Zahl, die die Studie übrigens nicht nennt. Eine Schwäche. Sie verliert manchmal den Blick fürs Offensichtliche.

Seite 12. Inhaltsverzeichnis. Aber nicht nur. Daneben: ein Blick in die Zukunft, angehaucht von Dystopie. 28 Worte aus einem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Februar diesen Jahres steht dort geschrieben:

"Sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu groß und wird erworbener Reichtum als überwiegend leistungslos empfunden, so kann sich die Akzeptanz der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verringern."

Die Stimmung ist also gesetzt. Es brodelt im deutschen Sozialstaat. In der Einleitung macht Klundt u. a. deutlich, worin er den Sinn der Studie sieht. Paraphrasiert würde der Sinn lauten: "Liebe Politiker der Republik: Nehmet und handelt! Schreitet zur Tat!" Und er hat Recht: die Studie legt den Ball auf den Elfmeterpunkt während das Tor noch leer ist. Das Problem: Kaum eine Partei will Anlauf nehmen, käme es nach Jahren in Regierungsverantwortung doch einer Bankrotterklärung gleich, die Existenz von Kinderarmut einzugestehen.

Das erste Kapitel widmet sich den Ursachen und Zusammenhängen von Kinderarmut und kramt zumindest für den ersten Absatz im verstaubten Bücherregal und findet Karl Marx:

"Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h, auf Seiten der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert."

29.000 Kinder unter 18 sind wohnungslos - nochmal als Erinnerung. Die Studie ist ein Zahlenmeer. Das soll dieser Artikel nicht werden. Ganz ohne gehts aber auch nicht. Kinder - also Menschen unter 18 Jahren - gibt es in Deutschland etwa 12,9 Millionen, knapp 16% der Gesamtbevölkerung. Davon leben je nach Datenquelle etwa 1,9-2,7 Millionen, also bis zu 21%, mit einem sogenannten "Armutsrisiko", wobei die Begriffswahl schon eine Verharmlosung mit sich bringt. Achtung, schwierige Definition: Diese Kinder leben in Haushalten, die über weniger als 60% des Median aller Nettoäquivalenzeinkommen verfügen.

Was höre ich da? So viele Arme? Reiner Unfug! Ja, es liegt im Trend, statistikkritisch zu sein. Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst ...! Dieses Spiel wird gerne betrieben - jedoch von beiden Seiten. So wurde der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung teils völlig konträr reflektiert: die ARD berichtete im Dezember 2016 unter der Schlagzeile "Armutsquote of Rekordhoch" während die FAZ meinte, "Frohe Botschaften" verkünden zu können und die "Aufregung über die angebliche `Schere` zwischen Arm und Reich" als "übertrieben" abbügelte.

Der Konflikt entbrennt sich hier zwischen den Begriffen der relativen Armut (60% des Nettoäquivalenzeinkommens) und der sogenannten "echten" oder "absoluten" Armut. Letzteren versucht die Bundesregierung als neues Maß für Armut in der Bundesrepublik zu etablieren. Dafür erschuf sie neun Kategorien relativ willkürlicher Lebensgüter und den Begriff der "(erheblichen) materiellen Entbehrung". Vielleicht lasen Sie damals davon, dass "nur" noch 4,7% der Kinder arm seien. Damit war gemeint, dass jedes zwanzigste Kind in einem Haushalt lebt, der z.B. Probleme hat, die Miete zu bezahlen, die Wohnung zu heizen, unerwartete Ausgaben zu tätigen und jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu finanzieren. Kinder also, die in vier der neun Kategorien, erhebliche (!) materielle Entbehrungen erleiden - das sind knapp 5%. Streicht man das "erheblich" ist es wieder etwas anderes - dann geht es um Entbehrungen in drei dieser Kategorien. Man leidet dann z.B. unter materieller Entbehrung, wenn man weder Auto, noch Telefon noch Farbfernsehgerät im Haushalt hat - mit Miete, Heizkosten, unerwarteten Ausgaben und Urlaub aber keine Probleme hat. Das sind jetzt die Extrembeispiele, die aber zeigen, wie konfus diese Kategorisierung von Armut ist. Man fällt beispielsweise in keine dieser Armutskategorien, wenn man sich ein kleines Handy leistet, den 30-Jahre-alten VW-Golf vom Großvater geerbt und sogar einen kleinen Farbfernseher im Wohnzimmer stehen hat, jedoch aufgrund geringen Einkommens die Miete selten pünktlich bezahlen kann und in erhebliche Schwierigkeiten geriete, wenn mal die Waschmaschine kaputt sein sollte. Die Studie titelt dazu in einer Grafik treffend: "Welche Kinderarmut soll es denn sein?"

Drei kurze Geschichten aus der Studie, die Ursachen der Kinderarmut betreffend, sind erwähnenswert. Die erste beschäftigt sich mit den Familienleistungen. Na, wüssten Sie, wie viele es gibt? Klundt zitiert aus einem Zeit-Artikel von Julia Friedrichs von Januar 2017:

"Es gibt über 150 Familienleistungen - Elterngeld, Kindergeld, Kita-Zuschuss - und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat grade erst berechnet, wie sich dieses Geld verteilt. Das Ergebnis war überraschend: 13% der Fördersumme landen bei den reichsten zehn Prozent der Familien, nur sieben Prozent bei den ärmsten zehn Prozent. Anders ausgedrückt: Ein armes Kind ist dem Staat monatlich im Schnitt 107 Euro wert, ein reiches aber 199 Euro"

Als eine "herausragende Maßnahme gegen Armut" beschwört 2001 der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung die rot-grüne Renten- und Steuerpolitik. Klundt sieht dadrin jedoch eine Verstärkung der "sozialen Polarisierung" und nennt die nackten Zahlen. Mit Blick auf die 2004 abgeschlossenen Steuerreformen schreibt er:

"So erhielt z.B. ein Einkommensmillionär einen Einkommenszuwachs von 106.000 Euro, dagegen ein Durchschnittsverdiener mit 30.000 Jahreseinkommen nur einen Zuwachs von 1.320 Euro. D.h. der Millionär konnte sein Einkommen um 22,07%, der Durchschnittsverdiener aber nur um 5,77% verbessern. Die staatliche Entlastung für den Großverdiener entspricht damit dem 80,3-fachen des Normalverdieners."

Die dritte und letzte Geschichte beantwortet die Frage, was die Bundesregierung für Geringverdiener und Arbeitslose übrig hat. Nicht viel? Das wäre wohl noch ein Euphemismus:

"Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 sollten bis zum Ende des Jahres die Regelsätze [von Hartz IV], insbesondere bei Kindern, bedarfsgerecht berechnet werden, wobei nicht nur physisches, sondern auch soziokulturelles Existenzminimum gewährleistet werden muss. In dieser Situation entschied die Bundesregierung, dass eine arbeitslose Familie im ersten Lebensjahr ihres Kindes pro Monat 300 Euro weniger als bisher erhält. Denn seitdem wird das Elterngeld auf Hartz IV angerechnet."

Eine große Stärke der Studie ist die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner - der zumeist zwischen der neoliberalen Forderung nach Ungleichheit und dessen Beschönigung schwankt - sowie dessen Argumentation und Rhetorik. Das Motto: Kenne deinen Feind! Einer dieser Feinde: Regierungsberater und Gründungsmitglied der "Fünf Wirtschaftsweisen" Herbert Giersch. Der jubelt seit den 1990er Jahren eine "marktgerechte Entmachtung des Staates" herbei. Klundt zitiert einen SPIEGEL-Artikel der Autorin Barbara Supp von 2012:

"Dringend [...] müsse der Staat an Macht verlieren. Dagegen sei Widerstand zu erwarten. Zu lösen sei das Problem, indem man beispielsweise Steuern senke. Man brauche `das Diktat der leeren Kassen`. Man brauche `ein Defizit, das als anstößig gilt`, so könne man den Staat beschneiden. Ganz unverblümt steht es da: Nicht aus Notwendigkeit solle der Staat machtloser und ärmer werden, sondern aus Prinzip. Der das schrieb war kein Exot. [Giersch] war prägendender Lehrbuchschreiber und Ausbilder mehrerer Generationen von Ökonomen, die heute in Banken, Verbänden, Unternehmen zu finden sind."

Auch der Debatte um die Sprache verwehrt sich die Studie nicht. Klundt legt dar, dass mit Schlagwörtern wie "Generationengerechtigkeit" und "Demografiefestigkeit" in Verbindung mit einer Notstandsrhetorik ("Zeitbombe Demografie"; "Krieg der Generationen") die heutige junge Generation instrumentalisiert wird. Diese Frames (Deutungsmuster) verwandelten soziale und politische Fragen in biologische Sachzwänge, die den demokratischen Diskurs und die Suche nach Alternativen negieren. Dazu Klundt:

"Jeder, der will, darf im Moment die solidarische und paritätische Sozialversicherung in Deutschland verdammen und für jegliches gesellschaftliches Problem verantwortlich machen. Dabei reicht allein der Hinweis auf Globalisierung, Demografie und Generationenverhältnis aus, während eine ausführliche Begründung [...] über den Begriff hinaus scheinbar nicht notwendig ist."

Der vermeintlich "generationengerechten" Politik hält er entgegen, sie müsse berücksichtigen, ...

[...] dass radikaler Schuldenabbau und der damit verbundene Rückzug des Staates aus wichtigen Bereichen [aktuell] eine schwere Hypothek für künftige Generationen bedeuten würde, neben der die mittelfristig fortbestehende Staatsverschuldung das vergleichsweise kleinere Problem darstellt."

Sprachpolitisch hebt Klundt jedoch auch Erfolge hervor. So werde zum Beispiel mittlerweile unter Kinderarmut nicht mehr wie früher die Armut an Kindern, sondern eben die Armut von Kindern verstanden.

Darüber hinaus sensibilisiert er für den eigenen Sprachgebrauch. "Problemkinder" - das rutscht einem schon mal schnell über die Lippen. Das damit aber die Kinder selbst - z.B. solche mit Problemen in der Schule oder psychischen Problemen - meist ungewollt zum Problem erklärt werden, reflektieren wenige. Die Wortwahl "Kinder unter problematischen Bedingungen" hingegen rückt eben jenen sozialstaatlichen Rahmen in den Mittelpunkt und unterstützt so auch sprachlich das eigene Wertegerüst.

Doch was kann man nun tun gegen Kinderarmut? Darauf gibt die Studie umfassende Antworten, die an dieser Stelle nicht ausführlich Erwähnung finden sollen. Zentral sei eine Neuberechnung des soziokulturellen Existenzminimums - die Nationale Armutskonferenz hat 2016 festgestellt, dass dieses heute nachweisbar nicht bedarfsgerecht sei. Zudem müsse man den Zugang zu Sozialleistungen an einer Stelle bündeln, um so Bürokratie, Stigmatisierung, Demütigung und Unkenntnis zu vermeiden. Klundt hebt aber eines besonders hervor: man könne zwar an der ein oder anderen Stellschraube drehen. Letztlich ginge es aber auch immer wieder um eines: die Primärverteilung des gesamtgesellschaftlichen Vermögens.

Schließlich kann es in der Zusammenfassung der Studie auch der Akademiker - der übrigens in der Konsequenz seiner Arbeit Kinderarmut als "politisch mit zu verantwortende Kindeswohlgefährdung" bezeichnet - nicht mehr vermeiden, ein wenig Frust und unterschwelligen Witz mit allerlei Fachvokabular zu kombinieren. Und so endet die Studie mit den Worten:

"Offensichtlich besteht trotz Datenkenntnis doch so etwa wie systemische Erkenntnisresistenz und Praxispersistenz, die sich auch nach beinahe zwei Jahrzehnten nicht einmal wundert darüber, dass die eigenen Maßnahmen (selbst nach den eigenen Kriterien und Berichten) nicht zum versprochenen Erfolg geführt haben bzw. die eigene Verantwortung für die real existentierenden Auswirkungen fast vollständig ausblenden."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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