Er hat gekniffen!" titelte hämisch die linke Tageszeitung Página/12, als der Rückzug Carlos Menems aus der Stichwahl am 18. Mai bekannt geworden war. "Ein beschämendes Verhalten", beschwerte sich die konservative Presse einhellig. Argentinien war eher mit dem Kandidaten beschäftigt, der kapituliert hatte, als dass es dem neuen Präsidenten Néstor Kirchner gratulierte.
Die Meinungsumfragen vor der Stichwahl hatten Ex-Präsident Menem bei 20 Prozent und Kirchner bei 80 Prozent der Stimmen einsortiert. Das bedeutete allerdings nicht, dass sich Kirchner bei den Argentiniern einen besonderen Sympathiebonus erworben hatte - selten war die Bezeichnung "Protestwahl" angebrachter als diesmal: Die Menschen wollten für Kirchner stimmen, damit Menem nicht wieder an die Macht kam als der größere Übel, das ihnen drohte.
Doch ein Siegertyp ist Kirchner beileibe nicht, eher ein grauer peronistischer Politiker ohne viel Charisma. In letzter Zeit hatte er versucht, sich durch einen liberaleren Diskurs von seinen Parteigenossen abzusetzen, um ein wenig an Profil zu gewinnen. Denn das hat der hagere, blasse Mann mit den großen Schielaugen bisher überhaupt nicht offenbart. Der 53-Jährige kommt aus der patagonischen Provinz Santa Cruz, die er schon seit 1991 als Gouverneur regiert. Bekannter war bisher eher seine Frau Cristina, die für den peronistischen Partido Justicialista (PJ) im Senat sitzt, wo sie lautstark den neoliberalen Flügel ihrer Partei kritisiert, allen voran den Ex-Präsidenten und soeben geschlagenen Kandidaten Menem.
Jetzt haben die Argentinier eine brachliegende Wirtschaft, eine unbezahlbare Außenschuld, ein zerrüttetes Parteiensystem - und einen Provinzler als neuen Präsidenten, der nur von einem Fünftel der Wahlberechtigten gewählt worden ist. Keine schlechte Bilanz - es hätte wesentlich schlimmer kommen können. Zum Beispiel, wenn Carlos Menem erneut im Präsidentensessel säße und dazu ausholen würde, ein Lebenswerk zu beenden, das er in zehnjähriger Regierungszeit nicht zu Ende bringen konnte - nämlich: den Resten der nationalen Industrie endgültig den Garaus zu machen.
Néstor Kirchner hingegen liegt eine eigene Wirtschaft am Herzen, wie er stets betont - vor allem eine: die Ölindustrie. Seine Heimatprovinz Santa Cruz ist das Herz der einheimischen Förderung, eine riesige, menschenleere Steinwüste - gespickt mit Bohrtürmen und Pipelines. Nicht, dass der Export des argentinischen Öls den Argentiniern sehr zugute käme: Der Staatskonzern YPF wurde schon vor Jahren an das spanische Unternehmen Repsol verkauft, das mit argentinischem Erdöl 1.200 Dollar pro Minute verdient.
In den neunziger Jahren war es eine peronistische Regierung, die praktisch alle Staatsfirmen privatisieren ließ, jedoch überstürzt und zu ungünstigen Konditionen. Die Verkäufe waren eine Vorleistung, um Kredite von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF zu bekommen. Doch die Gelder, die durch die Privatisierungen ins Land kamen, wurden in den seltensten Fällen sinnvoll investiert: man zahlte damit Zinsen ab oder sie wanderten in die Taschen korrupter Politiker.
Was tut in dieser Lage die Bevölkerung? Sie erfindet neue Jobs und neue Formen der Zusammenarbeit. Ein Beispiel liefert die Branche, die man in einer Krise eher für überflüssig hält: Konfektion und Design. Buenos Aires war von jeher in Lateinamerika Vorreiter für Modetrends. An allen Ecken der Kapitale öffnen derzeit kleine Läden, in denen Designer gemeinsam Kreationen anbieten, schräg, bunt und zum jetzigen Umtauschkurs sehr preisgünstig. Nicht nur Kleider, auch Accessoires, Ledertaschen oder Glaswaren. Hochburg ist das Viertel Palermo Viejo, eine Gegend mit schön renovierten alten Häusern, Hunderten von Cafés, kleinen Restaurants und immer wieder neuen Ateliers.
Oft ist es nicht die Designerin, die eine Kollektion entwirft und sie dann nähen lässt, sondern der Weg läuft umgekehrt. Der Wirtschaftsberater Emilio Gonilski gibt ein Beispiel: "Ein Fall, mit dem ich gerade zu tun habe, das sind kleine Jeansfabrikanten in einer Provinzstadt. Da haben sich eine Reihe von Werkstätten zusammengetan und eine Assoziation gebildet, damit sie expandieren und exportieren können. Diese Produzenten geben gemeinsam Aufträge an wichtige Designer aus Buenos Aires und stellen komplette Kollektionen her, mit neuen modischen Entwürfen." Kleine Schritte, um eine größere Strecke zurücklegen zu können.
Auch Néstor Kirchner werden bestenfalls kleinere Schritte möglich sein. Es gehört eine Portion Mut dazu, heutzutage in Argentinien Präsident zu werden - eigentlich kann es niemand Carlos Menem verdenken, dass er den Rückzug antrat. Néstor Kirchner will sich nun für ein stärkeres Gewicht des Staates einsetzen, aber Menems Masche, mit Privatisierungen die Staatskasse zu füllen, erweist sich in Ermangelung noch nicht-privatisierter Staatsbetriebe längst als anachronistisches Verfahren. Es sind lediglich noch ein paar Nationalparks übrig, die bestimmt ein schönes Feriendomizil für einen stadtmüden US-Millionär abgäben.
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