Meine Lektüre am Tag der Einheit - I - Brigitte Reimann

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Man könnte im Folgenden fast konsequent DDR gegen BRD tauschen!

Brigitte Reimann/Alles schmeckt nach Abschied / Aufbau-Verlag

Neubrandenburg. 7. 10.69

Der Große Tag ist angebrochen. 20 Jahre DDR (die zwei Unbekannten sagen wir, weil einem von jedem Dach und Giebel die beiden X entgegenleuchten, entgegenschreien). Auch in der stillen Gartenstraße sammeln sich die Leute zum Demonstrationszug, Autokräne fahren auf, Lastwagen mit Transparenten, vorm Haus steht eine Beatgruppe, Jungs mit Panamahüten und spielt probeweis verjazzte Volkslieder, »wetscherni swon« und so, und vorhin war mir beinahe wehmütig, und ich sollte mich anschließen und mitmar­schieren, eben dabei sein -, aber dann ging das Fanfarenge­schmetter los, dieses militante Getön, das mich immer noch an Jungvolk und HJ erinnert, und da war die Anwandlung vorbei. Ich werde also lieber arbeiten. Bei aller Liebe zur DDR - in den letzten Wochen ist mir (und allen meinen Freunden) das Gebrüll auf die Nerven gegangen. Die größte DDR der Welt. Unsere Errungenschaften. Die mörderische Parole: »Wir sind richtig programmiert«. (Das zitierte M. W in jener Nacht auch, mit einer Art Ekel und Entsetzen, und bei dem Wort »Staatsvolk«, sagt er, habe er die Vorstellung von 17 Millionen Ameisen, die eine monströse Krone auf ihrem Rücken schleppen.)

Für die »Sichtwerbung« sind Unsummen ausgegeben worden. Man sieht nur noch Fahnen, Fahnen, Fahnen, und Transparente und die Pappköpfe. Wie gehabt. Die Fernseh-Truppe ist vorgestern abgereist; man konnte nicht mehr dre­hen in diesen roten und roten Straßen. Scharioth ist sauer und schimpft auf den Jubeltag und das Fernsehen und die ganze Welt. Und grade jetzt ist strahlend schönes Wetter, Sonnenschein, tagsüber nahezu sommerliche Wärme, kurz, ideales Dreh-Wetter.

Eben ist die Demonstration eröffnet worden, mit Böller­schüssen, unter denen das Haus zitterte...."


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Geschrieben von

SiebzehnterJuni

MenschenSchutz statt HeimatSchutzChemiker und Organist

SiebzehnterJuni

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