Walter Ulbricht setzte nach dem 17. Juni 1953 die Legende in die Welt, die Intelligenz hätte voll und ganz hinter der Regierung gestanden. Auch spätere Analysen in Ost und West bedienten diese Version. Erleichtert worden ist die Legendenbildung, weil der Blick zu sehr auf den Tag des 17. Juni und nicht auf die Gesamtsituation einer länger andauernden Gesellschafts- und Systemkrise gerichtet wurde. Analysen des Förderungsausschusses für die deutsche Intelligenz oder der Zentralen Intelligenzkonferenz im Mai 1953 oder auch der Debatten im Präsidialrat des Kulturbundes hingegen belegen, dass die sich zuspitzenden Widersprüche zuerst von der Intelligenz wie von einem Seismographen registriert wurden.
Am 15. Juli 1952 hatte sich auf einer Präsidialratstagung des Kulturbundes der universal gebildete Präsident der Kammer der Technik (KdT), Heinrich Franck, als Sohn eines Kunstmalers auch künstlerisch interessiert, unverblümt mit den Sorgen und Nöten der technischen Intelligenz befasst. Mit der Verordnung über die Erhöhung der Gehälter für Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker vom 28. Juni 1952 ( GBl. II 1952 Nr.84 S. 510) habe die Regierung, so Franck, gute materielle Voraussetzungen geschaffen. Dies sei aber für die Techniker und Ingenieure schon gar kein Problem mehr. Sie hätten einige andere Wünsche. Man könne bei diesem sehr schwierigen Kapitel kaum eine begriffliche Zusammenfassung finden. Der Förderungsausschuss für die deutsche Intelligenz habe dafür das Wort "Vergrämung" geprägt: "Es gibt einzelne Menschen unter dieser Intelligenz, die mit dem, was ihnen gegeben ist, nicht zufrieden sind und (die) in diesen Sinne vergrämt sind. Ich habe neulich schon darauf hingewiesen, dass zu dieser Vergrämung in vielen Fällen das Auftreten und die unziemliche Behandlung durch subalterne Instanzen führt. Das haben wir bis in die höchsten Instanzen unserer Regierung und Partei."
Ein Ingenieur aus dem Gummiwerk Riesa veranschaulichte das aus eigenem Erleben: In seinem Betrieb sei eine Schwerpunktmaschine ausgefallen. Dadurch entstanden große Produktions- und auch Qualitätsverluste. In der Werkzeitung erschien ein Artikel über den Fall, in dem erklärt wurde, dass es sich möglicherweise um Sabotage handeln könnte. Ein sehr scharf formulierter Text. Ihm sei es als Ingenieur jedoch gelungen, die Maschine in drei Wochen wieder instand zu setzen, da er für den Kalander ein Ersatzteil in umgearbeiteter Form verwandte. Er sei anschließend in den Urlaub gefahren und habe die ganze Zeit mit der Sorge leben müssen, wegen Sabotage verhaftet zu werden, falls die Maschine erneut ausfiele. Dieses Gefühl sei bei ihm so stark gewesen, dass die anderen Urlaubsgäste sich bei ihm erkundigten, ob er ernstlich krank sei oder schwere Sorgen habe.
Hatte der erwähnte Heinrich Franck mit dem Begriff der "Vergrämung" der Techniker und Ingenieure die Lage in seinem ureigensten Fachgebiet treffend beschrieben, war es Johannes R. Becher, der in Fortsetzung dieser Debatte Ende Oktober 1952 den Kern einer "Vergrämung" im geistigen Leben der DDR überhaupt darin sah, dass keine offene geistige Auseinandersetzung stattfinde. Becher packte den Stier gar bei den Hörnern, wenn er die ständige Berufung auf den Marxismus-Leninismus mit einem Fragezeichen versah. Er wehrte sich auf seine Weise gegen aktuelle Kampagnen: "Ich kann nicht mit unserem Freund Hollitscher ein Gespräch über naturwissenschaftliche Probleme beginnen und sagen: ich bin Materialist, und ihn angreifen, ohne eine Ahnung von der Einsteinschen Relativitätstheorie zu haben."
Sorge um Arnold Zweig
Anfang 1953 nahm der Kulturbund immer neue Krisensymptome wahr. Der Slansky-Prozess in der C?SSR und seine negativen Folgen für jüdische Intellektuelle in der DDR, die Zwangsauflösung der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), eine Dogmatisierung in allen kulturellen Bereichen: Der Theaterkongress im Januar 1953 erhob das sowjetische Theater zum Vorbild. Die Volksbühnenorganisation wurde liquidiert, Hanns Eislers Faustus-Libretto verteufelt, das Chinesische Skizzenbuch von Gustav Seitz verboten. Gleiches galt für die Aufführung von Opern Rudolf Wagner-Régenys und den Film Das Beil von Wandsbek, dessen literarische Vorlage ein Roman von Arnold Zweig war.
Nicht ausgeblendet dürfen bleiben dramatische kirchenpolitische Kontroversen, vor allem um die "Junge Gemeinde" und die "Studentengemeinde" oder die Repressionen gegenüber den bürgerlichen Parteien CDU und LDP, was auch die mit beiden verbundenen mittelständischen und liberalen, protestantischen und katholischen Schichten einschloss. Spektakuläre Vorkommnisse waren die Verhaftung des liberal-demokratischen Ministers für Handel und Versorgung, Dr. Karl Hamann, bis dahin Vorsitzender der LDP, und des christlich-demokratischen Außenministers Georg Dertinger, eines Intellektuellen aus dem Umfeld des konservativ nationalen Bürgertums, aber auch die Festnahme von christlich-demokratischen Intellektuellen wie Otto Hartmut Fuchs, Chefredakteur des UNION-Pressedienstes und erst zwei Jahre zuvor aus Westdeutschland in die DDR gekommen, oder von Willi Leisner, Publizist und Redakteur der nach einjährigem Erscheinen verbotenen Dresdener evangelischen Zeitschrift Verantwortung.
Nach Angaben von Wilhelm von Sternburg hielt Arnold Zweig am 13. Januar 1953 in der DDR-Volkskammer eine leidenschaftliche Rede gegen die Methoden der DDR-Justiz, die 25 Jahre Zuchthaus mit Leichtigkeit verhänge. Da im Januar 1953 keine Plenartagung der Kammer stattfand, hat sich der Vorgang vermutlich im Petitions-Ausschuss abgespielt, dessen Mitglied Zweig war. Weil er sich mehrfach sehr ungehalten über die willkürlichen Verhaftungen geäußert hatte, war Zweig nach Auffassung seines westlichen Freundeskreises in Gefahr geraten. So schrieb Robert Neumann an Lion Feuchtwanger: "Ich frage mich, was wir für unseren Arnold Zweig tun können. Sie wissen ja wohl, dass er durch Becher in der Akademie ersetzt worden ist. Er ist zweifellos gefährdet. Andererseits kann ich nicht ermessen, ob auch er das fühlt und ob er weg will. Es ist ja so schwer, all das von hier aus zu beurteilen. Wie denken Sie darüber?" Feuchtwanger beschwichtigte, von ernsthafter Gefahr könne keine Rede sein. Zweig habe gerade mit einem Aufruf in der DDR-Presse den Zionismus verteidigt.
Zu den Ursachen für die Unzufriedenheit der Intellektuellen hatte es in der zusammenfassenden Analyse des Kulturbund-Präsidialrates geheißen: "Sie haben das Gefühl, verfolgt zu werden. Bei Verhaftung werden oft die Angehörigen nicht verständigt, weshalb und wohin. Vielfach arbeitet unser Verwaltungsapparat bürokratisch, ohne Verständnis für die Lage der Intelligenz und für ihre Bedürfnisse. Teilweise ist noch Intelligenzfeindlichkeit im Staats- und Parteiapparat. Sammelbegriff(e lauten): Die Intelligenz wird abgekanzelt, Mit Phrasen niedergeschmettert."
Don Camillo und Peppone
Große Aufregung verursachte im Frühjahr 1953 der französisch-italienische Gemeinschaftsfilm Don Camillo und Peppone, der in der DDR auf Verlangen der "Kunstkommission" nicht gezeigt wurde, weil er die italienische Kommunistische Partei auf "geschickte und raffinierte Weise verhöhnte". Allerdings lief der Streifen in den Kinos der Bundesrepublik und Westberlins als kolossaler Publikumserfolg und lockte nicht wenige DDR-Bürger zum offiziell verketzerten Besuch von "Westkinos". Der Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt schwang sich in Heute und morgen und in der Schweriner Volkszeitung sogar zu einer Verteidigung des unerwünschten Films auf, der in der Weltbühne von Carl Andriessen verrissen worden war. Der warf dem Film vor, "die Klassengegensätze der Gesellschaft mit Zelluloid" zu verkleistern. Don Camillo und Peppone sei "der Gipfel des Versöhnlertums". Auch bei Kleinschmidt wusch die Weltbühne nach dessen Widerspruch scharf nach: "Gleiche Brüder - gleiche Kappen für Don Camillo und Karl Kleinschmidt." Bundesfreund Karl, ein Kulturbundfunktionär aus Greifswald, verwahrte sich im Präsidialrat des Kulturbundes gegen solche "Bausch und Bogen -Verurteilung" und forderte eine differenzierte Kritik, während Alexander Abusch (*), der den Film "gefährlich" und "hundsgemein" fand (wo hatte er ihn gesehen?), es für notwendig hielt, prinzipiell Stellung zu beziehen: "Es gibt Dinge, zu denen man prinzipiell und scharf sprechen muss. Wenn unser Bundesfreund Kleinschmidt in einer Zeitung, die in der Republik erscheint, einen Film gegen die Angriffe der Weltbühne in Schutz nimmt, der in der DDR nie gezeigt wurde, sondern nur in Westberlin, dann kann man schon eine gewisse scharfe Sprache finden, und er täte klug, das einzustecken." Wenn etwas "prinzipiell" gesehen wurde, dann war kein Platz mehr für Humor. Und in dieser Zeit wurde sehr viel prinzipiell gesehen.
Es war vor allem die Debatte im Präsidialrat des Kulturbundes am 3. Juli 1953, der ersten nach dem Neuen Kurs und dem 17. Juni, die auf jegliches Diplomatisieren verzichtete und statt dessen auf die Grundwebfehler der DDR-Gesellschaft verwies. Für Heinrich Franck und Arnold Zweig waren das die Bedrohung der Rechtssicherheit, für den Mediziner Theodor Brugsch und den Chemiker Günther Rienäcker der Bruch der Verfassung und für den Pädagogen Heinrich Deiters und den Romanisten Victor Klemperer das Versagen der parlamentarischen Institutionen, vorrangig der Volkskammer. Der Historiker Ernst Niekisch benannte die tiefe Kluft zwischen den führenden gesellschaftlichen Kräften und dem Volk, die spätestens am 17. Juni offenbar geworden sei. Karl Kleinschmidt geißelte die sofort zutage getretenen Differenzen zwischen den Zusagen des Neuen Kurses und der realen Lage. Immer wieder war zu hören, es habe mangelndes Vertrauen von unten wie von oben gegeben, keine Offenheit im Verhältnis von Regierung, SED und Volk, eine verhinderte umfassende Information durch Presse und Rundfunk.
Der Kulturbund selbst setzte auf neue Weise auf Überparteilichkeit. 1945 war Überparteilichkeit noch ein Synonym für die Einheit der unterschiedlichen Kräfte gewesen - 1953 hieß Überparteilichkeit vorsichtige Loslösung von der 1952 normativ gewordenen Anklammerung an die führende Rolle der SED. Die eher nach neuen organisatorischen Formen klingende Forderung nach "Clubs der Intelligenz" hatte einen inneren Zusammenhang mit der nach Überparteilichkeit: Die Clubs hätten Stätten von offener geistiger Auseinandersetzung werden sollen. Karl Kneschke, ein eher als lammfromm einzuordnender Funktionär, forderte im Sog des ausgebrochenen Reformoptimismus gar Vereinsfreiheit.
Neuer Kurs, "alte Schläuche"
Seine gesellschaftspolitischen Positionen resümierte der Kulturbund in 14 Punkten - ähnlich verfuhr die Akademie der Künste mit ihren zehn Punkten -, wäre danach verfahren wurden, hätte das zweifellos zu einer Erneuerung der DDR-Gesellschaft beigetragen. In der nach dem 15. Plenum der SED Ende Juli 1953 massiv einsetzenden Restauration wurden jedoch die Reformprogramme der Intellektuellen harscher Kritik unterworfen und letztlich abgeblockt. "Neuer Kurs" war nur noch in "alten Schläuchen" möglich, wie Ernst Bloch treffend und zugleich resignierend bemerkte. Victor Klemperer schrieb in sein Tagebuch: "Die geheime Tyrannei, der geheime Sumpf, der älteste Kurs unter dem Deckmantel des neuen. Quo vadis?"
Es sollte sich aber zeigen, dass die Intellektuellen nach dem 17. Juni nicht gänzlich mit leeren Händen dastanden. Die verhasste Kunstkommission unter Helmut Holtzhauer wurde aufgelöst. Und im Januar 1954 entstand ein Kulturministerium unter Johannes R. Becher, was Ernst Bloch mit den Worten begrüßte, dass hier "nämlich Macht noch zu Geist" gekommen sei. Es bestehe die außergewöhnlich glückliche Situation, dass der Kulturbund nunmehr über eine "Telefonleitung zur Macht" verfüge.
(*) Alexander Abusch (1902 bis 1982) war Kulturpolitiker und stellv. Ministerpräsident der DDR.
Vom Autor ist zu diesem Thema auch ein Buch erschienen: Siegfried Prokop, Intellektuelle im Krisenjahr 1953. Enquête über die Lage der Intelligenz der DDR. Schkeuditz Buchverlag 2003
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.