Deutsche Frage als deutsche Gefahr

NACHKRIEGSENTWICKLUNG Gegen den Strich gebürstet

Fülberth begibt sich auf Neuland, wenn er mit dem vorliegenden Band Berlin Bonn BERLIN. Deutsche Geschichte seit 1945 versucht, eine Gesamtsicht, untergliedert in 17 Kapitel, mit Zeittafel, Literatur- und Quellen- und Personenregister, zu liefern. Auf Archivquellen wird leider verzichtet.

Sein Ausgangspunkt widersteht dem herrschenden Zeitgeist: Nicht die Teilung war das eigentliche Problem der deutschen Frage; sondern nach der deutschen Reichseinigung 1871 war ein Deutschland entstanden, dessen Positionen zu zivilisatorischen Grundsätzen, wie sie sich in der europäischen Aufklärung herausgebildet hatten, unklar blieben. Bis die Machtübertragung an Hitler zugunsten eines »deutschen Sonderweges« offenbar werden ließ: Die »Deutsche Frage« präsentierte sich der Welt als »Deutsche Gefahr«.

1945 mußten folglich die traditionellen Eliten in Deutschland an einer Wiederholung der bisher praktizierten Politik gehindert werden. Durch Spaltung des Landes oder aber durch seine langfristige Besetzung seitens der Siegermächte. Das ist Fülberths Ausgangspunkt. Zutreffend beschreibt er, daß die Westalliierten mit der Bi- und Trizonenbildung Spaltungspolitik betrieben und mit Truman-Doktrin und Marshallplan maßgeblich zum Ausbruch des Kalten Krieges beitrugen. Der Kalte Krieg ist aber für ihn nicht nur aus der Politik einer Seite gespeist. Stalin hat mit seiner Politik der Schaffung vollendeter Tatsachen, die im Widerspruch zu dem Konsens der Drei von Jalta standen, dazu beigetragen, was vom Verfasser vielleicht zu abgemildert in die Worte gefaßt wird: »Als er (Stalin - S.P.) damit begann, diese Politik auch in Polen durchzusetzen, das 1939 vom Deutschen Reich überfallen worden war, entstand ein ernster Konflikt mit den USA und Großbritannien: 1945, noch vor der Entzweiung über Deutschland.« Dieser Konflikt hatte für die Deutschen in der sowjetischen Zone schließlich die Konsequenz, daß sie mit der alliierten Kompromißentscheidung über die Teilung der Reparationsgebiete eine hochgradig ungleiche Reparationslast aufgebürdet bekamen. Damit aber war eine Weichenstellung vorgenommen worden, die die Westzonen in strategischer Weise begünstigte.

Mit der 1949 vollzogenen Spaltung Deutschlands und dem Entstehen der DDR, nach der Gründung der Bundesrepublik, vollzog sich nach Fülberth eine Neudefinition der »Deutschen Frage«. Jetzt sei es nicht mehr darum gegangen, den »deutschen Sonderweg«, der aufgrund der Teilung kein Problem mehr zu sein schien, zu beenden. Es ging um die Wiederherstellung der staatlichen Einheit. Die »Deutsche Gefahr« war suspendiert. Die beiden Teilstaaten konnten mit darüber entscheiden, ob sie nach der etwaigen späteren Aufhebung der Spaltung wieder neu entstehen würde oder ob sie auf Dauer gebannt sei.

In gleichrangigen Kapiteln, die je nach Periodisierung ein Jahrfünft beziehungsweise ein Jahrzehnt umfassen, behandelt der Verfasser die Geschichte von Bundesrepublik und DDR bis zur Wiederveinigung und das knappe Jahrzehnt Einheitsgeschichte danach. Er erinnert daran, daß sich vor der eigentlichen Restauration in den Westzonen von 1945 bis 1947 eine Entwicklung vollzogen hatte, die als gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuordnung beschrieben werden kann. Obwohl nach 1947 die Weichen auf Restauration der bürgerlichen Verhältnisse unter Obhut und an der Seite der Westalliierten gestellt worden war, mußte bei der Verabschiedung des Grundgesetzes als Konstituierungsurkunde eines Teilstaates auf die Festschreibung des Kapitalismus verzichtet werden. Eine breite Mehrheit zum Grundgesetz war nur unter der Bedingung ihrer Offenheit erreichbar.

Die DDR entstand gewissermaßen »als zweite Wahl, falls sich eine Spaltung Deutschlands nicht mehr verhindern ließ.« Stalin habe seit Mai 1945 eine gesamtdeutsche Lösung bevorzugt. Nach dem Ausbruch des Kalten Krieges sich aber im Zick-Zack zwischen dem Königsweg und der Gründung eines Teilstaates bewegt. Erst im Oktober 1952 wurde die DDR im Rechenschaftsbericht an den XIX. Parteitag der KPdSU als volksdemokratischer Staat bezeichnet. Die Bodenreform in der sowjetischen Zone, die den Großgrundbesitz beseitigt hatte, war selbst kein Beitrag zur Spaltung des Landes: »Die agrarische Eigentumsstruktur ist im Osten durch die Bodenreform eher derjenigen der westlichen Besatzungszonen angeglichen worden.«

Beide deutsche Verfassungen waren indes offensiv auf das Geltend-Werden im anderen deutschen Staat ausgerichtet. Tatsächlich aber wurde nach Gründung der Bundesrepublik die westliche Teilverfassung nicht mehr infrage gestellt. Die Erfahrung, daß es möglich war, durch eigene Leistung die persönliche Situation entscheidend zu verbessern, daß Erhards These, die »freie Marktwirtschaft« könne »Wohlstand für alle« bringen, tatsächlich zu funktionieren schien, führte zu einer relativ starken Identifikation breiter Volksschichten mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem und erneuerte das meist schon zur NS-Zeit erzeugte antikommunistische Denken und Fühlen. Anwachsende Flüchtlingszahlen aus der DDR gaben diesem Trend ständig neue Nahrung.

In der DDR hingegen war die Durchsetzung einer politischen Ordnung, die offensichtlich von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt wurde, nicht gerade das, was das Regime sympathischer machte. Der Typ Herrschaft, der von der sowjetischen Kontrollkommission und den Sicherheitsapparaten der DDR - einschließlich der SED - ausgeübt wurde, habe, der Definition von Werner Hofmann folgend, Merkmale des Stalinismus getragen: »Die erklärte Diktatur des Proletariats hat so für lange Zeit den Charakter einer stellvertretenden Diktatur angenommen, worin die Staatsgewalt ihren eigentlichen gesellschaftlichen Trägern entfremdet gegenübertrat.« (Werner Hofmann: Was ist Stalinismus? 1994, S.48f.)

Ein Ausgangspunkt, der alle nachfolgenden politischen Entscheidungen beeinflußte. Fülberth beschreibt deutsche Nachkriegsgeschichte in kurzgefaßter, emotionsloser, aber sehr korrekter Art, seine Urteile stehen nicht am Anfang, sondern am Ende des faktologisch Nachweisbaren, sie vermeiden die Reproduktion von Vorurteilen. Geschichtsdarstellungen, die die bundesrepublikanische Entwicklung als einzige Erfolgstory, die der DDR als auch historisch delegitimiert darstellen, gibt es zuhauf. Fülberth stellt deutsche Nachkriegsentwicklung hingegen in ihrer wechselseitigen Bedingtheit dar und erreicht damit einen Grad an Wahrhaftigkeit, der diese kurzgefaßte Übersicht vermutlich für längere Zeit zur besten Darstellung der Zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts erhebt. Jedenfalls für diejenigen, die an objektiver Information und differenzierter Wertung interessiert sind.

Georg Fülberth: Berlin Bonn BERLIN. Deutsche Geschichte seit 1945. PapyRossa Verlag (1999) Köln. 315 S. DM 36,-

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden