Es ist Sonntagmorgen, ein grauer windiger Tag, der in der grauen Maus Bochum noch etwas grauer wirkt. Die Fußgängerzone liegt verlassen da, deprimierend, weil ohne Bedeutung wenn keine Menschen und damit Käufer entlang hetzen: Vom H&M zum Deichmann und wieder zurück. Der Regen kommt von der Seite statt von oben. Ein Taxi entführt mich von diesem Einkaufsparadies, jungfräulich lasse ich den Konsum hinter mir. Der Taxifahrer bringt mich zum Ruhrcongress Center. Gegenüber läuft Starlight Express, eines jener Musical, deren Faszination sich mir nicht erschliessen. Wobei "Express" als Thema für den ersten Tag des Bundesparteitags der Piraten gar nicht schlecht gewesen wäre. Verzettelte man sich doch gerade da in Geschäftsordnungs-Scharmützeln, Bauchnabelschauen und verletzten Eitelkeiten: Also alles eher Starlight Schnecke. Der Griff nach den Sternen des Inhalts wurde in Zeitlupentempo vorgenommen. Man verhinderte sich selbst, wenn es andere schon nicht machen.
Wobei man nicht ungerecht sein darf: Immerhin wurde am ersten Tag ein Wirtschaftsprogramm verabschiedet. Nach heftiger Debatte. Doch leider kreiste die Debatte neben den Inhalten der jeweiligen Anträge eben auch um sich selbst: Geschäftsordnungsanträge wechselten sich ab mit Anträgen zur Änderung der Tagesordnung. Ein mehr und mehr ermüdender Prozess. Denn er bringt einen nicht weiter und verhindert die wirklich wichtigen Diskussionen. Beziehungsweise: Man verfolgt durchaus gespannt das Für und Wider zu den Anträgen und dann muss man über einen TO Antrag abstimmen. Dann ist man raus aus der Diskussion. Ich persönlich bin nicht so der Geschäftsordnungs-Hansel und habe da auch den Überblick verloren. Mich interessieren auch weniger GOs, sondern unser Programm. Daher war es am Ende nur noch nervend.
Oft wurde kritisiert: In den vorgelegten Anträgen zur Wirtschaftspolitik fehlen die Innovationen, die wirklich neuen Ideen, mit der man der Piratenpartei im Wirtschaftssegment ein eigenes Profil geben kann. Von den Kritikern hätte ich mir dann einfach auch mal innovative Ideen gewünscht, statt diese nur zu fordern. Wer weiss, wie man die Wirtschaft anders und neu organisieren kann, der hatte doch seit Monaten Zeit diese Ideen zu formulieren. Wer das dann nicht macht, ergeht sich nur in Besserwisserei. Die angenommenen Anträge zur Wirtschaftspolitik erfinden das Rad nicht neu. Das müssen sie auch nicht. Zunächst einmal müssen die Anträge sinnvoll sein. Und das waren eigentlich alle, auch der komplett abgelehnte. Ab und an verlor man sich in allen Anträgen sehr in Allgemeinplätzen oder Aussagen, die jeder unterschreiben kann. Aber die jetzt angenommenen Anträge sind eine gute Grundlage, auf der man weitermachen kann. Und wenn jemand noch innovative Ideen hat, kann er diese jetzt sofort und auf der Stelle einbringen. Wendet euch doch einfach an Antragsteller der angenommen Anträge. Die werden bestimmt nur so bombardiert mit Innovationen – da bin ich sicher.
Dann gab es die Mutter aller Geschäftsordnungsbattles um den Antrag 048 und der Formulierung "nationale Identitäten". Ich weiss selber nicht mehr genau wie oft der abgelehnt oder angenommen wurde. Überhaupt fiel mir auf, dass man manchmal zu oft abstimmen lässt und dann kommt schon das gewünschte Ergebnis. In dem Fall wurde letztlich der Antrag abgelehnt und dann am nächsten tag angenommen. Übrigens in einem sehr guten Beispiel, wie man sich auch in einem Streitfall sehr gut und einvernehmlich einigen kann.
Überhaupt hatte man von den insgesamt 111 Anträgen nur eine Handvoll bearbeitet oder diskutiert. Es war schon am Ende des ersten Tages klar, dass man nicht alle Anträge behandeln kann. Es werden auch nicht alle am nächsten Parteitag diskutiert. Darum gab und gibt es die Idee einer Ständigen Mitgliederversammlung als weiterer Ausbau des Liquid Democracy Prozesses innerhalb der Piratenpartei. Diese Idee macht mehr als Sinn, dass hat man an diesem Wochenende gesehen. Um mehr Inhalte zu schaffen und das Profil der Partei zu stärken kommen wir da nicht umhin. Der Diskussionsprozess um unser Programm wird nicht alle halbe Jahre während etwa 16 Stunden Arbeitszeit zu schaffen sein. Dafür müssen gerade jetzt viel zu viele Programm-Inhalte entwickelt und diskutiert werden. Zudem steht die Ständige Mitgliederversammlung für den neuen Politikstil der Piraten. Sie hat also operativen und strategischen Sinn und stärkt die grundsätzlichen Ziele: Beteiligung und Transparenz. Aber eine Bitte hätte ich noch: Wenn wir die Ständige Mitgliederversammlung schaffen, dann bitte in einem anständigen Design und nicht wie Liquid Feedback: bei aller Diskussion um Inhalte - ein bisschen Form darf auch sein.
Mein persönliches Highlight war der Zeitreisen-Antrag. Viele fanden ihn lächerlich und auch die Medien - vor allem die, die uns lieben - haben sich mit Inbrunst drauf fokussiert: Die Piraten-Idioten reden über Zeitreisen-Technologie. Die Spinner. Für mich war der Antrag einfach viel mehr: Er hat dem tagtäglichen Wahnsinn des ach so ernsthaften Politikbetriebs einen Spiegel vorgehalten: Dort wird mit großer Geste über vollkommen verrückte Dinge wie diverse EURO-Rettungsschirme abgestimmt, die noch nicht mal mehr die Parlamentarier durchblicken. Und mal unter uns: die CDU/CSU hat die Zeitreisen-Technologie schon erfolgreich eingeführt: Mit dem Betreuungsgeld kann man sich innerhalb weniger Sekunden in die 1950er Jahre beamen. Die Entrückung der Politik von der Wirklichkeit wurde nie besser auf den Punkt gebracht, als mit dem Zeitreisen-Antrag. Leider konnten wir dieses Alleinstellungsmerkmal nicht mit ins Programm nehmen.
Endlich war sie mal da, die innovative Idee, aber keiner wollte sie haben. Ich musste in dem Moment an die graue leere Fußgängerzone inmitten der strahlenden Metropole Bochum denken – ein Königreich für etwas Farbe!
PS: Wer tolle innovative Ideen zur Wirtschaftspolitik hat, kann sie mir auch senden. Ich leite sie gern weiter: herrfrommer@herrgrabowski.com
Kommentare 2
Vielen Dank, schöne Zusammenfassung, habe ich ähnlich empfunden.
"Von den Kritikern hätte ich mir dann einfach auch mal innovative Ideen gewünscht, statt diese nur zu fordern." > Das ist bei den Piraten ja so ein allgemeines Problem, siehe SMV, Bundeskiste..
@SIEGSTYLE
Lieber Siegstyle, wie Du weist, gibt es viele Bürger, die die Überholung unserer repräsentativen Demokratie und Seilschaften-Republik für längst überfällig halten. Deshalb auch der grosse Sympathie-Vorschuss für die Piraten. Andererseits gibt es berechtigte Zweifel, dass Neue Parteien etwas an der Altparteien-Diktatur ändern werden, da sie alsbald, wenn im BT etabliert, in die Korruptionsfalle der Alt-BT-Parteien tappen werden. Vor einigen Tagen schrieb ich einen offenen Brief hier im Freitag mit der Idee, die Piraten könnten unabhängige kompetente Direktkandidaten mit der Erststimme unterstützen, die, wenn gewählt, im BT eventuell Piraten-Abgeordnete (über Zweitstimmen gewählt) unterstützen würden. Der Vorteil für die Piraten wäre, erfahrene Fachleute zu gewinnen, die programmmässig die Piraten unterstützen, zum anderen würden sicherlich Parteiunabhängige, die normalerweise der Wahl fernbleiben, die Zweitstimme an die Piraten geben und so dazu beitragen, die 5%-Hürde zu überspringen. Das Enthaltungspotential ist wohl bald gegen 50% gewachsen, so dass eine Möglichkeit für unabhängige Direktkandidaten viele Wähler zur Urme animieren würde und auch zur Unterstützung der Piraten. Schliesslich: Die Piraten würden mehr Erfolg haben, wenn sie sich zusätzlich durch eine ausserparlamentarische Protestbewegung, die weniger anfällig gegenüber materieller Korruption und Hierarchiegerangel ist, gegen die Seilschaften-Republik definieren würde.
Vorschläge zur Wirtschaftspolitik: Jedermann weiss, dass der Neoliberalismus nicht nachhaltig ist und die Zeit drängt, ihn zu reformieren (siehe Eurokrise durch Merkelsches TOTSPARDIKTAT und "Soziale-Kälte-Politik").
Hierzu erstmal zwei wichtige Gedanken:
Ohne in einen neuen Sozialismus zu verfallen, der uns allen zum Halse raushängt, müssen wir in Richtung Gemeinwirtschaft arbeiten:
1. Mitbestimmungsgesetz: Es muss in Zukunft möglich sein, dass in Aufsichtsräte von grossen Unternehmen mit Tausenden von Arbeitnehmern auch deren direkt gewählte Vertreter (weg mit DGB-Vertretern) kommen und über Produktion und Verwendung der Gewinne mitbestimmen. Die gesellschaftliche Produktion darf nicht länger privat bestimmt werden. Es müssen aber auch Konsumentenvertreter in die Aufsichtsräte. Schliesslich sind Arbeitnehmer und Konsumenten die Zielgruppe gesellschaftlichen Wirtschaftens und müssen darüber mitbestimmen können, und das nicht nur über den Markt sondern direkt in der Produktion.
2. Es muss ein nationaler Fonds für Arbeitsbeschaffungsmassnahmen bereitgestellt werden, der über die Kommunen verwaltet wird. In diesen müssten Runde Tische eingerichtet werden, wo Arbeitslose und Geringverdiener über lokale gemeinwirtschaftliche Projekte diskutieren und bei aussichtsreichen Ideen billige Kredite beantragen können, unter dem Motto: Jeder hat Recht auf Arbeit und vor allem auf nützliche und möglichst gemeinwirtschaftliche Arbeit.
Gut, dieses als erste kurze Gedankenanregung.
Grüsse, CE