Mail an meine in den USA lebenden Schwestern

Was ich von Trump halte Hatte denn keiner bemerkt, dass sich die USA mittlerweile aus der Europa zugrundeliegenden Wertegemeinschaft verabschiedet haben? Ist Trumps Sieg vielleicht ein Weckruf?

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Liebe Schwestern,

die Ergebnisse der US-Wahlen waren natürlich ein Paukenschlag und so, wenigstens in Europa, von Vielen weder vorhergesagt noch erwartet. Schon gar nicht von mir. Was bedeutet das jetzt aus meiner Sicht für Deutschland?

Dass die USA schon seit Jahrzehnten das kapitalistische System weiter ausbauen, manche bezeichnen das mittlerweile als Raubtierkapitalsimus, war ja nichts Neues. Genausowenig, dass die soziale Ungleichheit mittlerweile ein unanständiges Ausmaß angenommen hat und im Trend weiter auseinander driftet. Auch dass mit Geld mittlerweile Politik, Gesetze und Politiker in großem Maßstab gekauft werden, war bekannt. Ex-Präsident Jimmy Carter hatte daher vor einigen Jahren davon gesprochen, dass die USA sich mittlerweile zu einer Oligarchie entwickelt haben, in der unbegrenzte politische Bestechung zur vollständigen Zersetzung des politischen Systems zugunsten einiger großer Wahlspender geführt hat, sowohl auf republikanischer als auch auf demokratischer Seite: müßig, darüber zu diskutieren, welche Seite hier gerade führend ist.

Dass allerdings zu heutiger Zeit ein Mann Wahlen gewinnen kann, der auf niederem populistischem Niveau ausgeprägt rassistisches und sexistisches Gedankengut und Verhalten an den Tag legt, der Hass gegen Ausländer, Andersgläubige und Minderheiten wieder salonfähig macht, der sich ungeniert als Egomane, unwilliger Steuerzahler, Klimawandel- etc. -Lügner und politischer Lehrling geriert - Berlusconi war dagegen ein Waisenknabe, der allerdings Italien und die italienische Gesellschaft um Jahrzehnte zurückgeworfen hat - hätten von einem entwickelten Kulturland wie den USA wohl die Wenigsten erwartet. Um dem Vorwurf zuvorzukommen, ich hätte diese Trump-Charakterisierung von der - unter Rechtspopulisten bevorzugt so bezeichneten - "Lügenpresse" übernommen (wäre die Frage, welche Lügenpresse denn gemeint wäre: die auf Clintons Seite oder die auf Trumps Seite?), habe ich mir tlw. die Reden und Diskussionen dieses Herrn im Original angesehen, angehört bzw. gelesen.


Könnte mir aber auch egal sein, wenn sich die Amerikaner wieder auf dieses Niveau zurückbegeben wollen - wobei die Mehrheit der Stimmen ja gar nicht auf den Wahlsieger Trump gefallen sind, was dem US-Wahlsystem geschuldet ist und letztmals ja schon Al Gore erfahren musste.
Was mich umtreibt ist, dass in Deutschland ein Trend zur - "unterwürfigen"? - Übernahme des amerikanischen Systems vorherrscht. Aber ein System, dass Jahrzehnte lange erkämpfte kulturelle, soziale, umweltpolitische, demokratische Errungenschaften mit einem Federstrich preisgibt, möchte ich mir - auch nicht von einem "jungen" Amerika - überstülpen lassen. Da lasse ich mich - gemäß Donald Rumsfeld aus der Ära des Bush-Amerikas - gerne als Bürger vom "alten" - aber wenigstens kulturell hoch entwickelten - Europa "verunglimpfen".


Nun, wir werden sehen, was von den Trump-Sprüchen im politischen Geschäft tatsächlich umgesetzt wird - die ersten Rückzieher werden ja schon publik -, bzw. was nur dem Stimmenfang geschuldet war. Und wir werden sehen, wer von den Republikanern, die sich während der Wahlkampagne moralisch oder anderweitig entrüstet von Trump abgewandt hatten, wieder aus machtpolitischen Gründen und der Pfründe wegen ihm zuwenden wird, d.h. in welchem Umfang die bekämpfte alte Elite wieder Urstände feiern wird.


Es bleibt aber, dass mit Trump eine neue Stufe an Verkommenheit im politischen System en vogue wird, was ja schon die Rechts-Populisten in Europa aufgegriffen haben. Vor letzterem wird mir bange!
Na, dann viel Glück! Es wird spannend!

Liebe Grüße.

Euer Bruder

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