Die Ukraine-Krise - ein nachdenkliches Vorkriegs-Tagebuch

Ukraine im Spannungsfeld Sollte es zu einem Krieg kommen, cui bono?Was hätte Putin erreicht?Was hätten die USA anderes erreicht als eine Ausweitung der NATO-Bedrohungskulisse ggü. Russland? Die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen?Ukraine als Opfer?

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Die Ukraine-Krise - ein nachdenkliches Vorkrieg-Tagebuch

Was in der öffentlichen Debatte weitgehend ausgeblendet wird


Mir fällt auf, dass in den letzten Vorkriegs-Monaten in unseren Medien die Berichterstattung über die Ukraine-Krise sehr einseitig betrieben wird. Kenner, die auf Aspekte hinweisen, die zu einer Erklärung des Verhaltens Russlands beitragen könnten, wie dies z.B. der deutsche Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach getan hat, werden niedergemacht.
Insofern ist es an der Zeit, einige gegenläufige Aspekte in Erinnerung zu rufen.
In diesem Beitrag will ich diese einseitige Berichterstattung im Vorfeld einer kriegerischen Auseinandersetzung um die weitgehend ausgeblendeten Argumente und Fakten der anderen, also der russischen, Seite ergänzen, um ein ausgewogenes Urteil zu ermöglichen. Dabei beziehe ich mich vorwiegend auf sicherheitspolitische Themen und nicht auf - auch relevante - Themen der Außen- und Wirtschaftspolitik wie z.B. Globalisierung, Marktorientierung, Energiepolitik, Klimapolitik. Letztere Themen wären letztlich nach Kriegsende, sollte es tatsächlich zu einem Krieg in der Ukraine kommen, auf der Tagesordnung.

Es ist wohl unbestritten, dass Russland aufgrund seiner Geschichte ein hohes Sicherheitsbedürfnis hat. In diesem Sinn hatte z.B. Putin u.a. auch bereits 2001 im deutschen Bundestag die Hand zu einer umfassenden Partnerschaft - ja zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur - ausgestreckt, was seinerzeit unter Kanzler Schröder aufgegriffen wurde. Diese Chance wurde seit 2005 - dem Beginn der Kanzlerschaft von Merkel - zunehmend vergeben. Wer ein echtes Interesse an einem gemeinsamen Europa hat, dem möchte ich die Rede des russischen Präsidenten im Wortlaut empfehlen.
Aus der OSZE-Charta für Europäische Sicherheit von 1999/2010, in der u.a. auch festgelegt ist, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe, wird i.d.R. nur einseitig zitiert: dass jeder Staat auf der Suche nach Sicherheit frei ein Bündnis wählen dürfe.
In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 hat die NATO jedoch einer Beschränkung ihrer Truppenpräsenz in den neuen Mitgliedsstaaten in Osteuropa zugestimmt.
Auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hatte Putin sich kritisch mit etlichen offenen Fragen der globalen Sicherheitspolitik auseinandergesetzt und dabei insbesondere auch die praktizierte NATO-Erweiterung in Richtung russischer Grenze als provozierenden Faktor kritisiert. Doch leider wurde diese "Warnung" vom "Westen" nicht aufgegriffen wie auch nicht Putins vorgebrachte Anregung zum Dialog über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur. Stattdessen hatte die NATO auf ihrem Gipfel in Bukarest im April 2008 die Aufnahme von Georgien und der Ukraine in die NATO beschlossen (= dritte NATO-Ost-Erweiterung), um Russland in der Schwarzmeerregion von Nato-Ländern (Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Georgien) einzukreisen. Auch das Studium dieser Putin-Rede möchte ich zum besseren Verständnis der Situation gerne empfehlen.
Putin hatte im Rahmen dieser neuen Ukraine-Krise 2022 seinen Finger in diese "Wunden" gelegt und "fehlende Antworten" des "Westens" auf die Sicherheitsbedürfnisse Russlands bemängelt.

Fakt ist, dass seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Deutschen Wiedervereinigung die NATO sich immer weiter nach Osten - u.a. nach Baltikum, Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien - ausgedehnt hat, obwohl im Zuge der Wiedervereinigung über begrenzte Osterweiterungen der NATO - ob nun schriftlich festgelegt oder nicht - verhandelt wurde. "Es gibt keine Ausdehnung der Nato auch nur einen Zentimeter nach Osten", sagte US-Außenminister James Baker am 9. Februar 1990 dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow. Der seinerzeitige deutsche Außenminister Genscher hatte 1990 öffentlich erklärt, dass es „keine Bestrebungen der NATO gebe, Richtung Osten zu expandieren“. Aus den Archiven geht unwiderlegbar hervor, dass die amerikanische und die deutsche Regierung dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow wiederholt versprachen, die Nato werde sich nicht einen Zentimeter nach Osten bewegen, wenn die Sowjetunion das Militärbündnis des Warschauer Paktes auflöse. Dennoch begannen die USA bereits Anfang der 1990er-Jahre mit der Planung einer Nato-Erweiterung, lange bevor Wladimir Putin russischer Präsident wurde. 1997 legte der nationale Sicherheitsexperte Zbigniew Brzezinski einen präzisen Zeitplan für die Nato-Erweiterung vor.

US-Diplomaten und die ukrainische Führung wussten sehr wohl, dass die Nato-Erweiterung zu einem Krieg führen könnte. Der amerikanische Staatswissenschaftler George Kennan bezeichnete die Nato-Ausdehnung als "verhängnisvollen Irrtum".

Fakt ist, dass auch nach dem Ende des Kalten Krieges US-Diplomaten, Generäle und Politiker vor den Gefahren einer Ausdehnung der Nato bis an die Grenzen Russlands und vor einer böswilligen Einmischung in Russlands Einflusssphäre warnten. Die ehemaligen Kabinettsmitglieder Robert Gates und William Perry sprachen diese Warnungen aus, ebenso wie die Diplomaten George Kennan, Jack Matlock und Henry Kissinger.

Fakt ist also auch, dass Russland offensichtlich das nachvollziehbare Bedürfnis nach einer neuen (ost-)europäischen Sicherheitsarchitektur hatte und immer noch hat.

Fakt ist,

- dass noch 2020 das größte Militärmanöver der NATO seit 25 Jahren (Defender 2020) eine Truppenverlegung an die russische Grenze im großen Stil proben sollte (reduziert wegen Corona),
- dass im April 2021 das NATO-Großmanöver Defender 2021 mit 28.000 Soldaten im Südosten von Europa begonnen wurde,
- dass im Juni 2021 5.000 NATO-Soldaten das Manöver Sea-Breeze am Schwarzen Meer durchführten,
- dass am 14. Juni 2021 ein NATO-Gipfel bekräftigte: Die Ukraine kann Mitglied werden,
- dass im Herbst 2021 in der Ukraine ein NATO-Manöver mit 6.000 Soldaten stattfand.

Hätte der Westen nicht besser insbesondere auch die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands ins Visier genommen? Hätte die USA, also Biden, nicht besser auf das erneute Gesprächsangebot Putins über diese Sicherheitsinteressen Anfang 2022 in Genf eingehen sollen? Offensichtlich hat bei der abschlägigen Antwort Bidens auch die amerikanische Innenpolitik - Midterm-Wahlen im Herbst 2022 - eine ausschlaggebende Rolle gespielt.

Fakt ist aber auch, dass - neben vielen anderen Punkten - insbesondere die im Rahmen des Minsker-Abkommens (Minsk II) vereinbarte Autonomie der sogenannten Volkrepubliken - die eigentlich als die grundsätzliche politische Befriedung gedacht war - nicht im Rahmen der neuen Verfassung der Ukraine umgesetzt wurde. Offensichtlich war diese Autonomie innenpolitisch in der Ukraine nicht durchsetzbar.

Wie auch diesmal beim Krisen-Besuch des Bundeskanzler Scholz bei Putin in Moskau, hat sich zu einem Ritual der deutschen Außenpolitik entwickelt, dass deutsche Politiker - ob in China, in Russland oder in Katar - immer auch vor Ort unbestreitbar vorhandene Demokratie- und Menschenrechtsdefizite kritisieren - jedoch umso leiser, je stärker sich die jeweiligen Gespräche um wirtschaftliche Themen drehen. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, das deutsche Politiker etwa in den USA offensichtlich dort auch vorhandene Demokratie- und Menschenrechtsdefizite - ich nenne nur Guantanamo, Black Lives Matter, Sturm auf das Capitol, ein demokratische Spielregeln mit den Füßen tretender Präsident inkl. seiner Partei, Minderheiten behindernde bzw. ausschließende Wahlgesetze etc. - anprangern. Insofern ist es schwierig bis unglaubwürdig, mehr Demokratie und mehr Menschenrechte auch jetzt wieder bei Putin einzuklagen.

Hätte der europäische Westen nicht besser auch die Risiken einer erneuten Präsidentschaft eines Trump ins Visier genommen?

Hätte sich der Westen doch auch einmal mit den Zielen und Konzepten der Pazifismusbewegung auseinandergesetzt! Warum hat man der Ukraine nicht zu einem gewaltfreien Widerstandskonzept in Anbetracht der russischen Übermacht geraten, anstelle an der Eskalationsspirale nach immer mehr und immer tödlicheren Waffen mitzudrehen?

Die aktuelle ukrainische Führung wusste im übrigen ganz genau, dass ein Drängen auf eine Nato-Erweiterung auf ukrainisches Territorium Krieg bedeuten würde. Der ehemalige Selenskyj-Berater Oleksij Arestowytsch erklärte in einem Interview 2019, "dass unser Preis für den Nato-Beitritt ein großer Krieg mit Russland ist."

Was die Medien seit Januar 2022 berichten

Rheinische Post (RP) 27.1.2022

Die Stärke der im Grenzgebiet zur Ukraine stationierten russischen Truppen sind nach Einschätzung der Regierung in Kiew bislang nicht ausreichend für einen Großangriff. Russland habe bedeutende Kräfte "entlang der Grenze und in besetzten Gebieten der Ukraine" zusammengezogen, was "eine direkte Bedrohung" darstelle, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Mittwoch. Doch "für eine groß angelegte Offensive entlang der gesamten ukrainischen Grenze" reichten sie noch nicht aus.
Aber der Westen - die NATO, die EU, die USA, und viele westlichen Länder - trommeln - nur gefühlt? - seit Wochen eine Kriegsgefahr herbei.
Im SPIEGEL leitartikelt Ralf Neukirch am 30.1.2022:
Waffenlieferungen an die Ukraine - Deutschlands Zaudern macht den Krieg wahrscheinlicher.
Anne Will 6.2.2022
Dies entspricht auch der Meinung mancher amerikanischer „Kriegstreiber“, wie z.B. Anne Applebaum (amerikanisch-polnische Historikerin und Journalistin), die am 6.2.1022 bei Anne Will erklärte:
Wer Waffen liefere, ist für den Frieden, wer keine Waffen liefern wolle, sei für den Krieg.
Hätte Anne Will doch der Ausgewogenheit wegen auch auf die seit 2015 zur Ukraine vertretene und viel diskutierte Position von Prof. John Mearsheimer als bekannter Gegenpol zu Applebaum hingewiesen! Aber das entsprach wohl nicht Wills Agenda. Gruselig!

Die Annahme, dass Putin statt Krieg eine Verhandlungslösung im Sinne einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur anstrebe, ggf. auch die EU und die NATO weniger abhängig von den USA machen wolle, scheint gar nicht auf dem Schirm zu sein!

Welche Forderungen liegen auf dem Tisch?
Der Westen verlangt - neben dem Rückzug der russischen Truppen von der ukrainischen Grenze und der Fortführung der Minsker Gespräche zur Befriedung der Ost-Ukraine -, dass jeder Staat selbst bestimmen können muß, wie und mit wem bzw. in welchem Bündnis er seine Sicherheit gestalten wolle. Dabei wird verschwiegen, dass auch vereinbart ist, dass dies nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten erfolgen dürfe.

Im Zentrum der russischen Forderung steht die Charta für die Europäische Sicherheit, die von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1999 in Istanbul verabschiedet und 2010 während eines Gipfels in Astana erweitert wurde. In dieser Charta findet sich der Grundsatz , dass jeder Staat auf der Suche nach Sicherheit frei ein Bündnis wählen dürfe. Gleichzeitig wird aber auch festgehalten, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe. Diesen Widerspruch nutzt Russland für seine Argumentation und beklagt, dass der Westen stets nur das Recht auf Bündniswahl für sich reklamiere, den zweiten Teil der Vereinbarung aber nicht respektiere. "So funktioniert es nicht", schreibt der russische Außenminister Lawrow, "die Bedeutung der Vereinbarung über die Unteilbarkeit von Sicherheit heißt doch, dass es entweder Sicherheit für alle oder keine Sicherheit für niemanden gibt".

Dazwischen: Die deutsche Innenpolitik
CDU/CSU wie auch unisono fast alle Medien scheinen einerseits einen Einmarsch der Russen in die Ukraine herbeitrommeln zu wollen, andererseits maßen sie der neuen Nord-Stream 2 Gaspipeline ebenso wie Waffenlieferungen an die Ukraine sowie Äußerungen von Ex-Kanzler Gerhard Schröder („Säbelrassen der Ukraine“) quasi Kriegs-Relevanz zu. Offensichtlich waren die deutschen Verlautbarungen mehr der aktuellen Innenpolitik als der tatsächlichen Situation geschuldet, wobei wohlweislich verschwiegen wurde, dass auf EU-Seite neben Deutschland auch Österreich, Frankreich, die Niederlande, Groß-Britannien und Finnland hinter Nord-Stream 2 standen, also rd. die Hälfte der Bevölkerung und der Wirtschaftskraft der EU!

Die Strategie der deutsche Regierung beruhte dagegen damals noch auf

- Friedenssicherung durch konstruktive, ergebnisoffene Verhandlungen
- NATO- und EU- weit abgestimmte Sanktionen im Falle eines russischen Einmarsches in die Ukraine
- keine Eskalation durch Waffenlieferungen, Drohungen etc. (übrigens hat sich ursprünglich auch Frankreich gegen eine Lieferung von Waffen an die Ukraine ausgesprochen).

Der Krieg

Spiegel Online vom 12.2.2022
Die Warnungen vor einem unmittelbar bevorstehenden Krieg in der Ukraine werden immer lauter, dringlicher, schriller. Und natürlich ist das verstörend. Denn die Einschätzungen der US-Geheimdienste, die gestern, also Mitte Februar, an westliche Regierungen überbracht wurden, sind beängstigend konkret und verwirrend vage zugleich: Die USA haben ihren westlichen Partnern die Einschätzung der CIA überbracht, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Entscheidung getroffen habe, eine Invasion in die Ukraine zu starten – und sie lieferten gar ein konkretes Datum dazu: Am 16. Februar könne es losgehen, das wäre der kommende Mittwoch. Die Einschätzungen sollen auf abgefangenen Hinweisen beruhen. Die Geheimdienste werden es sich wohl nicht leisten können, anders als vor dem Irak-Krieg, nochmals voll daneben zu liegen.
16.2.2022:
Die Russen sind nicht in die Ukraine einmarschiert! Der befürchtete bzw. herbeigeredete (?) Krieg hat - noch - nicht begonnen!
Die sich seit heute im Kriegszustand wähnenden USA können allerdings noch nicht bestätigen, dass Frieden herrscht, solange nicht die US-Geheimdienste entsprechende Beweise geliefert haben.
Also ist es wohl ein Bluff der Russen, dass sie den Krieg noch nicht begonnen haben? Also befinden wir uns aus westlicher Sicht im Krieg? Also braucht die NATO mehr Geld?
Mittlerweile terminieren die USA den russischen Angriff auf die darauffolgende Woche, beklagen den weiteren Aufmarsch des russischen Militärs - mittlerweile 150 Tausend russische Soldaten rund um die Ukraine - und die „aggressive Rhetorik gegen Kiew und die NATO“. Gleichzeitig schickt der Westen unter dem Motto „Militärische Präsenz in Osteuropa weiter ausbauen“, „Verstärkung der Ostflanke“ und „Abschreckung ggü. Russland“ über die NATO weitere Truppen und Militärmaterial vom Baltikum über Polen bis nach Rumänien und Bulgarien und kündigen eine NATO-Großübung in der Slowakei für die erste März-Hälfte an.

Und die Russland-Nichtversteher fragen: „Hat Putin sich verzockt?“

Vor dem Krieg ist vor dem Krieg

Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 12.2.2022
Viele Experten, vor allem auch in der Ukraine, fragen - offensichtlich weitgehend ungehört - nach dem Sinn der schrillen Botschaften und warnen das Weiße Haus und die in Sachen Hysterie nicht gerade zurückhaltende britische Regierung vor ungewollter Kriegstreiberei.
Kindergarten-Niveau war vor allem in der innerdeutschen Diskussion schließlich dann erreicht, als einerseits die Auswirkungen eines Krieges in der Ukraine auf die Gasversorgung Deutschlands und Europas (über die derzeitigen durch die Ukraine führenden Pipelines) in Bedrohungsszenarien thematisiert wurden, gleichzeitig aber der Stop von Nord-Stream 2 gefordert wurde. Offensichtlich waren sich manche Politiker, darunter insbesondere die Trump-Versteher in Union und FDP, nicht zu schade, die aktuelle Situation zu instrumentalisieren, um ihre Interessen durchzusetzen.
Kindergarten-Niveau hatte auch das Beharren von CDU/CSU und aller Mainstream-Journalisten auf das penetrante Aufzählen von einzelnen potentiellen westlichen Sanktionen - insbesondere Nord-Stream 2 mußte genannt werden! Daran wurde der deutsche Bundeskanzler Scholz von der CDU/CSU und den Medien „gemessen“. Warum eigentlich?
Nur am Rande sei vermerkt, dass die USA derzeit in Milliardenhöhe Öl aus Russland beziehen, und aus wirtschaftlichen Gründen bisher auch keine Sanktionen gegen Russland auf dem Energiesektor erlassen wollen! Stattdessen haben aber die USA die Nord-Stream 2-Aktivitäten in Deutschland sanktioniert, um ihre wirtschaftlichen Interessen auf dem Energiesektor durchzusetzen! So gehen befreundete Demokratien im Westen miteinander um!
Der neue CDU-Vorsitzende Merz und seine CDU/CSU-Freunde hatten die Bemühungen von Kanzler Scholz zur Friedenssicherung - ob in Washington, ob in Kiew, ob in Moskau oder ob zuhause - ebenso konterkariert wie seinerzeit die damalige CDU-Kanzlerin-Anwärterin Merkel vor dem Irak-Krieg die seinerzeitigen Bemühungen um Friedenssicherung des damaligen Kanzlers Schröder konterkariert hatte.
Der „CDU-Außenexperte“ Röttgen hatte am 17.2.2022 bei Lanz noch schnell die russische Truppenstärke auf 160.000 erhöht und damit seiner einseitigen Meinung über den Aggressor Russland weiter Ausdruck verliehen.
Woran bisher kaum jemand erinnerte: Die Kuba-Krise wurde in den 60er Jahren des letzten Jahrtausends ausgelöst, als die Sowjetunion (Chrustschow) Mittelstrecken-Raketen vor Amerikas Haustüre in Kuba stationieren wollte! Kennedy hatte im Gegenzug mit Atomschlag gedroht, Chrustschow zurückgezogen. Übrigens war Auslöser die Bedrohung der Sowjetunion durch die Stationierung von Mittelstrecken-Raketen der USA in der Türkei. Letzteres wurde im Zuge dieser Krise wieder von den USA zurückgenommen. Kein Lehrstück aus der Geschichte?
Wie werden die westlichen Säbelrassler und Kriegstreiber reagieren, wenn Russland - auch bei einem zweiten oder dritten Termin - nicht, wie vorhergesagt, in die Ukraine einmaschiert ist? Was werden diese dann Putin Schlimmeres als einen Krieg vorwerfen? Oder ist - wenigstens in der Kriegsfrage - auf Putin doch noch Verlass?

Cui Bono?

Und wenn es dann doch noch zu einem Krieg kommen sollte, cui bono?
Was hätte dann Putin im Hinblick auf die von ihm gewünschte neue Sicherheitsarchitektur in (Ost-)Europa erreicht? Sicherlich keine befriedigende Antwort auf seine Sicherheitsbedürfnisse. Vielmehr eine erneute Bestätigung einer offensichtlich russisch-inhärenten verbrecherischen Kriegsführung. Eine Auflösung der Architektur der immerhin jahrzehntelang leidlich funktionierenden welt- und europaweiten Handels-, Kultur-, Wissenschafts-, Politik- Sicherheits- und Militärstrukturen. Dafür ein erneuter Nachweis seiner aggressiven Machtpolitik, die Absprachen und bi- oder multilaterale Verträge ohne Rücksicht auf Verluste bricht, und eine Festigung seines Rufes als unzuverlässiger und unberechenbarer Partner. Ganz abgesehen von sanktionsbedingten Schäden, soweit diese nicht durch - offensichtlich bereit stehende - alternative Handelspartner kompensiert werden können.
Was hätten die USA anderes erreicht als eine Ankurbelung ihrer Rüstungsindustrie? Eine Aufrechterhaltung, ja Ausweitung der NATO-Bedrohungskulisse ggü. Russland? Die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und militärischen Interessen? (Die ZEIT vom 18.2.2022: Die USA haben inmitten des Konflikts mit Russland um die Ukraine ein 6 Milliarden $ schweres Waffengeschäft mit Polen genehmigt! Die USA halten ihre milliardenschweren Öl- und Gasgeschäfte aus dem Konflikt heraus!" ). Die USA sehen natürlich ein großes Potential bei der zweifellos mit allen Mitteln beabsichtigten Übernahme der russischen Lieferbeziehungen von Energie.
Und für die ukrainische Bevölkerung bliebe wieder einmal nur die Opferrolle?
Die europäischen NATO-Mitglieder werden in ihren Etats eine deutliche höhere Sicherheitsrendite abbilden müssen, während deren Wirtschaft und Bevölkerung insbesondere wegen der exorbitant steigenden Energiekosten hohe Wirtschafts- und Wohlstandsverluste hinnehmen müssen.
Die Öl-und Gas-Industrie wird ebenso wie die Kriegswaffen-Industrie, nicht nur in den USA und Russland, sondern auch in vielen anderen Regionen, Zusatzgewinne in der Größenordnung von 3-stelligen Milliarden-$-Beträgen pro Jahr einfahren.
Und ein differenziertes Russlandbild wird kaum noch diskutierbar sein. Die Positionen des überwundenen kalten Krieges werden wieder Urstände feiern. Dabei könnte sich für Europa doch auch eine Chance für eine vielfältige, zukunftsorientierte Neuorientierung öffnen anstatt sich wieder in die Strukturen des kalten Krieges zu flüchten?

Und was die Klimapolitik mit ihren Zielen zur Reduktion der Treibhausgase anbelangt, werden durch den - nicht nur von den USA forcierten - Auf- bzw. Ausbau neuer fossiler Infrastrukturen wie z.B. LNG-Terminals in Europa auf Kosten von Investitionen in erneuerbare Energien auf Jahrzehnte die fossile Wirtschaft wieder lukrative Freudenfeuer entzünden. Das war ja schon ein längeres Anliegen der USA bei der Verhängung ihrer Sanktionen gegen Nordstream!
Ob mit oder ohne Krieg, diejenigen, denen die Annäherung zwischen dem Westen und Russland schon lange ein Dorn im Auge war, haben mittlerweile beschleunigt damit begonnen, einzureißen, was in vielen, langen Jahren gesellschaftlich, kulturell, wirtschaftlich und politisch insbesondere auch im Rahmen der OSZE-Charta und der NATO-Russland-Grundakte mühsam und konstruktiv aufgebaut wurde. Diesen Irrweg noch zu erkennen, dessen Protagonisten in die Arme zu fallen und den begonnenen Irrweg zu korrigieren, könnte letzlich zu einer noch intensiveren und gedeihlicheren Annäherung führen.
Man wird doch noch Träume haben dürfen!

Wie weiter?

Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine besteht in Verhandlungen auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine und der Nicht-Erweiterung der NatoWas in der öffentlichen Debatte - auch in den ersten Kriegswochen - weitgehend ausgeblendet wurde, ist ja u.a. auch das, was der Papst anfangs kritisierte - die einseitige NATO-Osterweiterung, die sicherlich einer der Schlüssel für erfolgreiche Friedensgespräche sein werden. Wie borniert und faktenarm die Medien bei uns auf dieses Argument reagieren, hat wieder einmal Maischberger in ihrem Talk mit Dohnany am 11.5.2022 vorgeführt. Gegen Dohnanyis Argumente, dass die USA Verhandlungen zu konkreten Vorschlägen Putins Anfang 2022 abgelehnt habe, entgegnete Maischberger mit der Aussage, dass der Ex-Moskau-Botschafter Fritsch in den Vorschlägen unannehmbare Forderungen Putins an den Westen erkannt habe. Was für ein wachsweiches Schein-Argument! Vor allem auch, wenn man weiß, dass Putin diese Vorschläge bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 - offensichtlich ungehört - ausführlich begründet hatte. Auch der Politikwissenschaftler Christian Hacke läßt dieses Argument, wiederum bei Maischberger am 29.6.2022, nachvollziehbar nicht gelten.

Dieser letzte Abschnitt dient auch als Ausblick und Muster auf die seinerzeit schon konfigurierte weitere öffentliche Debatte, die scheinbar nichts anderes im Sinn hatte als die Deutschen unisono auf Krieg, Kriegswirtschaft, Opferbereitschaft und bedingungslosen, bisweilen auch geschichtsklitternden Russlandhass einzustimmen.
Im unmittelbaren Vorfeld des russischen Einmarsches stand die Nato-Erweiterung im Mittelpunkt. Putins von Biden abgelehnter Entwurf für den Vertrag zwischen den USA und Russland vom 17. Dezember 2021 forderte einen Stopp der Nato-Erweiterung. Auf der Sitzung des russischen Nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 bezeichnete die russische Führung die Nato-Erweiterung als Kriegsursache. In seiner Ansprache an die Nation an diesem Tag erklärte Putin die Nato-Ausdehung zu einem zentralen Grund für die Invasion.
Daraus folgt: Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine besteht in Verhandlungen auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine und der Nicht-Erweiterung der Nato und nicht in einem durch immer mehr, immer gefährlichere Waffen befeuerten Krieg. Eine Erkenntnis, zu der es eigentlich keines großen Sachverstands und schon gar nicht ausgefuchster Militärexpertise bedarf.
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