Über das Thema Meinungsbildung könnte man problemlos ganze Reihen an Werken verfassen. Dazu fehlt mir die Zeit und vermutlich auch die Qualifikation, deswegen beschränke ich mich hier auf ein ausgewähltes, aktuelles Beispiel für die Unmacht der Argumente.
Gestern konnte man auf Phönix live die "Debatte zur Riester-Rente und der gesetzlichen Rentenversicherung" verfolgen. Die Debatte geht über eine Stunde, für diesen Text reicht es aber, die ersten 13 Minuten zu betrachten:
https://www.youtube.com/watch?v=uJDCf5oMhv8
Matthias Birkwald eröffnete die Diskussion und beschrieb sowohl das Scheitern der Riesterrente, als auch den Vorschlag der Linksfraktion sauber. Man hätte sicher das eine oder andere Argument hinzufügen können (insbesondere das, dass die private Vorsorge eben NICHT unabhängig von der wirtschaftlichen oder demokratischen Entwicklung ist, das ganze "Vorsorge"-Geschwafel also Humbug ist). Unterm Strich ist es aber eine ordentliche Rede.
Nach ihm darf Peter Weiss seine Rede halten. Sie beginnt damit, dass er versucht, uns mit seinen in der ersten Klasse erworbenen Kenntnissen zu beeindrucken. Diese versagen bei der Betrachtung Volkswirtschaftlicher Probleme, was uns hier aber nicht weiter beschäftigen soll.
Zentral ist für mich die Zwischenfrage. Birkwald fordert:
"Sagen sie doch mal etwas zu meinem Argument, dass heute jemand, nach ihren Regelungen, 108€ in Riester stecken muss wenn er oder sie durchschnittlich verdient, und dass das mit einer Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung mit 35€ für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin und 35€ für den Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin zu erledigen wäre. Also insgesamt um 38€ weniger - wenn man die Zulagen nicht mitrechnet* [...] Was sage sie denn dazu?"
Was antwortet nur Herr Weiss darauf? Nichts. Einfach: Nichts. Er wiederholt, was er vorher schon falsches psalmodiert hat. Dann steigert er sich in Rage und schwatzt davon, die Linke wolle Familien "enteignen". Selbst wenn man, aufgrund schlechter Rechenkünste, der Meinung wäre, eine Familie profitiere von einer bezuschussten privaten Vorsorge mehr, als von einer starken gesetzlichen Altersvorsorge: Die von der Linksfraktion vorgeschlagene Option war, seine im Riestervertrag erworbenen Ansprüche FREIWILLIG in die Ansprüche an die gesetzliche Rente überführen zu können. Jedes Geschwätz von "Enteignung" verbietet sich also.
Worauf will ich hinaus? Liefe eine Diskussion üblicherweise so ab, dass Argumente ausgetauscht werden und die besten gewinnen die Debatte, Herr Weiss müsste mit seinem Unvermögen, auf Argumente sachlich zu antworten, oder gesagtes auch nur richtig wiederzugeben als schlichtweg geistig behindert dastehen.
Würde sich nun aber das bessere Argument vor den Zuhörern durchsetzen, die Fraktionskollegen aus der Union würden Herrn Weiss höflich, aber bestimmt darauf hinweisen, dass er hier einem Trugschluss aufgesessen ist.
Natürlich passiert nichts dergleichen. Wir halten Herrn Weiss auch nicht für geistig beeinträchtig (jedenfalls nicht in einem Maße, das über den Durchschnitt der Bevölkerung hinausginge). Sein Problem ist nicht das Können, sondern das Wollen. Er WILL nicht verstehen. Die Mechanismen die dazu führen, dass Herr Weiss nicht begreifen will, sind anderswo sicher besser formuliert. Wir begnügen uns hier mit der Phrase: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Na toll, wird jetzt mancher ausrufen, das war jetzt alles? Im Prinzip schon. Der Punkt auf den ich hinauswill ist dass die optimistische Einschätzung, in einer Debatte siege notwendig das bessere Argument, eine Fehleinschätzung ist. Diese Fehleinschätzung ist der Zwilling der Fehleinschätzung "Wirtschaftsliberalismus" - etwa der These, dass sich bei einer Stellenvergabe in der privaten Wirtschaft notwendig oder auch nur wahrscheinlich der geeignetste Kandidat durchsetzt.
Viele Meinungen sind gegenüber der direkten Konfrontation mit Argumenten völlig immun. Das sollte man im Hinterkopf behalten wenn man fordert, man solle "offensiv das Gespräch suchen", "miteinander Reden" usw.
*(Hier "Aaaht" Herr Weiss amüsiert auf. Offensichtlich ist es ihm lieber ein System, dass nicht steuerlich bezuschusst wird mit einem zu vergleichen, dass steuerlich bezuschusst wird. Da sieht dann das letztere Im Vergleich natürlich besser aus als es eigentlich ist. Die Kosten, "hart verdientes Steuergeld" wie Herr Weiss an anderer Stelle sagen würde, kommen heute anscheinend aus dem Nirvana)
Kommentare 17
wieso ist es nicht mehr möglich, über die Anzahl Leerzeilen zwischen den Absätzen selbst zu entscheiden?
wieso ist es nicht mehr möglich, über die Anzahl Leerzeilen zwischen den Absätzen selbst zu entscheiden?
Weil es keinen Quellcode-Editor mehr gibt, mit dem man als Autor Einfluss auf solche Effekte hatte.
Grmpf@Verantwortliche.
Die Kommunikation, um die es in Ihrem Beitrag geht, zielt m. E. nicht auf einen Prozess, in dessen Verlauf die besseren Argumente sich durchsetzen, sondern um einen, der propagandistisch (in einem weit gefassten Sinne) funktioniert.
Das könnte in der Art, wie von Jacques Ellul beschrieben und dort →zusammengefasst, auch Erklärung dafür sein, dass der Normalverbraucher sich eher von Herrn Weiß angesprochen fühlt als von Herrn Birkner.
Das Argumentationsverfahren läuft massengesellschaftskompatibel ab. Daran ändert sich auch nichts Grundlegendes, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Nachteile des Neolobiberalismus richtet: auch dann soll vor allem aktiviert werden, ohne dass dabei im Einzelfalle "zuviel" gedacht und überlegt wird.
Die Einfälle dazu sind im Normalfall keine aus der Massengesellschaft, sondern aus den PR-Abteilungen, bzw. bewusst agierender PR-Anwender.
unästhetisch!
>Die Kommunikation, um die es in Ihrem Beitrag geht, zielt m. E. nicht auf einen Prozess, in dessen Verlauf die besseren Argumente sich durchsetzen, sondern um einen, der propagandistisch (in einem weit gefassten Sinne) funktioniert.<
Das stimmt, das Format ist an sich kein gutes Beispiel. Nur: Wo fände sich denn diese ergebnisoffene, nichtpropagandistische Debatte?
Ach ja, ihr wisst doch: "Alternativlos"
Das mit den Argumenten ist dann nur noch dazu da, sich mit der alternativlosen Tatsache abzufinden - etwa in Talkshows. Sozusagen Desensibilisierungstherapie in Eigenregie. Und wenn sich jemand darüber aufregt, ist das dann noch dazu gut, das einem da bei der Aufregung dann die Flausen im Hirn ausbrennen.
Das habe Sie gut beobachtet, Sikkimoto. Der Unterschied zwischen bier- und stammtischerprobten Regierungsvertretern und Koalitionsabgeordneten und den paar Oppositionellen im BT, ist jederzeit spürbar.
Es ist leider bei fast allen Debattenthemen mittlerweile so.
Ganz schlimm sind die bräsigen Feixer und niveaulosen Spötter, die Schenkelkopfer und Brustspanner, in den Vorderreihen der großen Fraktionen, die das klar deshalb machen, weil sie aus ihrem 80%+ Block eine solch´ behagliche Sicherheit der Zustimmung verspüren. Das ist aber ein historisches Dauerphänomen. Wenn es wenigsten noch die Dynamik eines Debattentages im GB-Unterhaus hätte.
Ich kann ihnen nur beipflichten, denn die schrecklich niveaulosen Debatten um erneuerbare Energien und die Milch, verliefen ebenso.
Einzig beim Thema Armenien, ließ man einige Feingeister formulieren und getragen vortragen. Sie sehen aber auch, wo sich das Vertrauen und die allergrößte Zustimmung der Wahlbürger trotzdem immer noch einfindet. Derzeit laufen erste Vorbereitungen, dass es auch 2017 so bleibt, mit oder ohne SPD.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Der Punkt auf den ich hinauswill ist dass die optimistische Einschätzung, in einer Debatte siege notwendig das bessere Argument, eine Fehleinschätzung ist.
Wer jemals behauptete, in einer Debatte siege das bessere Argument, unterliegt einer Täuschung. Das dürfte allgemein bekannt sein. Interaktion ist weitaus komplizierter und vielschichtiger. Die Werbeindustrie weiß dieses Wissen bestens zu nutzen. Und dieses Wissen hat längst in die Politik Einzug gefunden, sonst würde die Kommunikation mit den Bürgern nicht vornehmlich über Agenturen laufen, seien es Wahlkämpfe, seien es Anzeigen in Zeitungen etc. Das fängt ja schon beim Outfit an, in dem ein Politiker oder eine Politikerin auftritt. Wer sich nicht beraten lässt oder schlecht beraten wird, hat die Folgen, die nicht immer klar an die Oberfläche kommen, etwa Sympathie vs. Antipathie, selbst zu tragen. Der stets großkariert gekleidete und schlanker gewordene Verkehrsminister, tritt nicht zufällig so auf.
Eine Voraussetzung dafür, dass sich eine solche Debatte entwickeln kann, sind ausgeschaltete Kameras, Mikrofone und Scheinwerfer - die Abwesenheit von Massenmedien. In einer Minderzahl der Fälle entwickelt sich dann eine merklich weniger propagandistisch geprägte Diskussion.
Aber das ist schwierig, weil Propaganda - nach Ellul - ja auch ein Komplexitätsentschärfer ist, der es uns als Normalverbrauchern überhaupt erst erlaubt, über Themen mitzureden, über die wir konkret nur sehr wenig wissen.
Insofern sind Columbus' Beiträge häufig - ob immer, kann ich nicht beurteilen - Beispiele für überdurchschnittlich "propaganda-arme" Info.
Und das, was nur oder fast nur an den Affekt oder an das in uns appelliert, was wir oft vorschnell "Werte" oder Ethik nennen, ist Propaganda.
Beispiel Erdogan/AKP: ich müsste lange nachdenken, bevor mir ein relativ emotionsloser Nachrichtenartikel bzw. -beitrag einfallen würde - egal ob aus "Bild", "Süddeutsche Zeitung" oder aus dem Bildungsbürgerradio.
...egal ob aus "Bild", "Süddeutsche Zeitung". Dazu "zeitgeistlos":
"Wir sollen schlucken, was sie uns einimpfen und anschließend die Fresse halten. Die Hoffnung von Jürgen Habermas, dass in einem offenen Diskurs, sich die besten Ideen durchsetzen würden, hat sich als absolut naiv erwiesen. Denn eine zensur– und propagandafreie (Medien-)Öffentlichkeit kann und wird es niemals geben."
Ganz so "dunkel" sehe ich es nicht, denn es gibt glücklicherweise zahlreiche kritische Blogs bzw. mediale Gegenöffentlichkeit, die im besten Sinne aufklärerische Information liefert. Im Moment gefällt mir ausgesprochen gut diese sehr informative Website, die im Gegensatz zum Versagen der sog. Leitmedien sich zur Aufgabe setzt, den Bürger unabhängig und kritisch zu informieren. Hier der Link: https://makroskop.eu/
Insofern sind Columbus' Beiträge häufig - ob immer, kann ich nicht beurteilen - Beispiele für überdurchschnittlich "propaganda-arme" Info.
Dem mag ich zustimmen. Doch, um bei dem Begriff zu bleiben, propaganda-arme Info, muss nicht zwangsläufig auf viel Interesse stoßen. Der künftige amerkanische Präsident, der Kandidat der Republikaner, benutzt eine propaganda-aufgeladene Sprache und erzielt damit eine Riesenresonanz. Er bringt die Inhalte an Mann und Frau. Das ist auch eine Kunst.
Er bringt die Inhalte an Mann und Frau. Das ist auch eine Kunst.
Kunst ist mir eine Nummer zu groß. Sehr gutes Kunsthandwerk, meinetwegen. Das kann ich allerdings auch vom Salesteam der Kanzlerin sagen.
Das Problem dabei: lassen Mann und Frau Trumps Inhalte an sich ran, weil sie sich so herrlich bei seinen Fernsehdebatten oder stomping speeches aufgeregt haben, geben sie damit ihre (meinethalben ohnehin eher theoretische) Funktion als Souverän auf.
Und wenn Frau XY findet, Merkel sei eine so patente Frau, die sich womöglich noch selbst ein Butterbrot schmieren kann, gilt Gleiches (auch wenn der Verblödungsprozess geräuschloser vor sich geht).
Kunst ist mir eine Nummer zu groß.
Große Gesten sind manchmal wichtig. Augstein hebt in seiner jüngsten Spiegel-Kolumne hervor, dass es auch um Gefühl geht. Der Linken wirft er vor, sie hätten es verloren. "Höchste Zeit, es sich zurückzuholen. Höchste Zeit für einen linken Populismus." Das muss nicht verkehrt sein. Schwarzbrotkost, und das täglich, auch wenn beste Absichten damit verbunden sind, hilft nur über den Hunger hinweg. Das fehlende Prickeln des Genusses lässt abstumpfen und Fadheit aufkommen.
Die Schwierigkeit liegt im Nachdenken. Diese öffentlichen Diskussionen zielen nicht darauf ab, gemeinsam nachzudenken sondern darauf, Zuschauer aka Wähler zu beeindrucken. Das Nachdenken ist zu dem Zeitpunkt längst erfolgt und für bräsige Denker auch abgeschlossen, jetzt gilt es, die eigene Position zu sichern.
Augstein sagt das?
Dann nehme ich alles zurück - der versteht sich ja schließlich auf große Gesten.
Warum so verzagt? In Fernsehen und Presse werden Scheindebatten organisiert, mit denen Podien zur Selbstdarstellung bereitgestellt werden und unangenehme Themen neutralisiert oder zerredet werden sollen. Gerade aber das bietet Möglichkeiten der Aufklärung. Nehmen wir Ihr Beispiel der Debatte von Birkwald und Weiss. Birkwald hätte nach Weissens Replik auf die Metaebene gehen, auf einer konkreten Antwort bestehen, auf die Strategie der Ablenkung und des Themenwechsels oder der sinnlosen Repetition des Gesagten verweisen müssen, oder am besten mit dem Verweis, daß hier offensichtlich nicht sachlich geantwortet werden soll, eine Diskussion, die keine ist, verlassen sollen. Die Rolle eines Stichwortgebers für solchen Quatsch wolle man nicht spielen.
Ich verweise auf Gabriele Krone-Schmalz, die sich hervorragend zu wehren und eine Scheindiskussion zu einer Aufklärungsstunde umfunktionieren kann. Natürlich darf man nicht naiv sein, muß von vornherein davon ausgehen, daß die Gegenseite weder zuhören noch ergebnisoffen reden will, und muß die Gegner dann ins rhetorische Messer laufen lassen. Ich sehe nicht, daß das Manipulieren und Lügen in der Kommunikation im Vorteil gegenüber dem Aufdecken desselben ist.
Gegenöffentlichkeit ist fein, aber sie bleibt eben Gegenöffentlichkeit. Ohne Erfolg im Meinungskampf wird sie immer marginal bleiben.