Auf dem kleinen Platz am Ufer des Lac Léman in Nyon war in der letzten Woche im ersten Tageslicht ein Mann beim Morgenspaziergang zu beobachten, der dem Filmregisseur Jean-Luc Godard aufs Haar glich. Vision einer schlaflosen Filmkritikerin? Eine Projektion, geboren aus dem Wissen, dass das Domizil des Cineasten nur ein paar Kilometer östlich den Genfer See hinauf liegt? Oder war Godard echt: und die morgendlichen Ausflüge Fluchtbewegungen einer lebenden Filmlegende vor dem sechstägigen Einfall von Filmbegeisterten aus aller Welt?
Später am Tag, in den Filmvorführungen und Debatten der diesjährigen Visions du Réel ließ sich der Meister - wenn er es denn war - jedenfalls nicht mehr blicken, auch wenn Festivaldirektor Jean Perret ihn im Vorwort des Festivalkataloges mit einer Bemerkung zitiert. Es ist ein kämpferisches Vorwort, dass neben Godard auch Paul Ricoeur und den deutschen Mystiker Meister Eckhart heranzieht, um in kantig gemeißelten Worten das Programm zu umreißen, mit dem das von Perret geleitete Team seit elf Jahren das 1969 gegründete Festival im westschweizerischen Nyon zu einem der lebendigsten Foren des internationalen Dokumentarfilms gemacht hat: Ein mit Leidenschaft der Filmkunst wie der Welt zugewandtes Treffen, das sich bis heute von puristischen Positionen ebenso weit entfernt hält wie von der modischen Anbiederung des Genres an Fernsehformate und voreilig vermutete Publikumserwartungen. Dabei verzichten die Visions du Réel nicht nur im Namen ganz bewusst auf den Begriff des Dokumentarfilms: Auch die Auswahl der Filme selbst zeigt Lust an der entgrenzten Auslotung des Felds möglicher Zugangsweisen und Perspektiven auf Wirklichkeiten, eingeschränkt nur durch die Ernsthaftigkeit des jeweiligen filmischen Zugriffs.
So bewegt sich die bisherige Arbeit des international gefeierten jungen thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul, dem dieses Jahr eine umfassende Werkschau gewidmet war, vom strukturalistischen Videoexperiment über populäre Genre-Adaptionen bis zu vielfältigen Versuchen, die Emotionalität narrativer Erzählformen mit penibler Beobachtung und dem experimentellen Einsatz unterschiedlichster erzählerischer Traditionen neu auszuloten. Haunted House (2001) etwa lässt zwei Episoden einer populären Fernsehserie von Dorfbewohnern aus der ländlichen Heimat des Regisseurs in wechselnden Rollen nachspielen. Und in dem cannesgekrönten Tropical Malady (2004) greift er auf mythische Motive zurück, um in Ausdrucksregionen vorzudringen, wo die vertrauten filmischen Mittel nicht mehr taugen.
Es sei einer der hartnäckigen populären Irrtümer, dass Dokumentarfilme sich über ihr Thema definierten, hat der Filmemacher Nicolas Philibert (Etre et avoir), zweiter Ehrengast des diesjährigen Festivals, einmal gesagt. Ein verständlicher Irrtum allerdings, denn es gibt ja genug solcher "Filme über...", wo unterschiedlichste Sujets in die immer gleichen Formen gegossen werden. Außerdem lässt sich über das "Worüber" immer viel leichter sprechen als über das "Wie". Doch natürlich hat Philibert recht. Und es ließ sich in Nyon gut studieren, wie sehr es die Form eines Film ist, die Substanz schafft. Ob das immer gelungen ist, darüber lässt sich streiten: Wie bei Massaker von Monika Borgmann, Lokman Slim und Hermann Theissen, der auch schon im Berlinale-Panorama zu sehen war und die Aussagen von sechs an den Massakern von Sabra und Schatila beteiligten Milizionären zu einem klaustrophoben Puzzle gekränkter goldkettchenbehängter Patriarchalität collagiert. Der internationalen Jury war die verstörende Radikalität des Filmes, der sich nie aus ein paar engen Räumen und der Nähe der gesichtslosen Männerkörper fortbewegt, einen zweiten Preis wert. Doch was ist der Erkenntniswert einer solchen Täterstudie, wenn die Bilder stumm bleiben und des Arabischen nicht mächtige Zuschauer zum Verständnis ausschließlich auf die Vermittlung der Untertitel angewiesen sind? Was bleibt, ist mimetischer Schockeffekt.
Ganz anders der mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Pipeline Next Door, die von der georgischen Regisseurin Nino Kirtadze in humoristischer Dorfgeschichten-Tradition erzählte wahre Fabel von der Konfrontation eines kleinen Kaukasus-Dorfes mit der großen Welt globaler Energiekonzerne. Einerseits macht den ländlichen Männern und Frauen die Vorstellung von den unheimlichen Stoffen, die die von der BP projektierte Pipeline unter ihren Weiden und Obstgärten durchjagen wird, wirklich Angst. Andererseits sind sie arm - und wittern die Geschäftschancen, die ihnen die Situation verschafft: Der Bestand an erstattenswerten alten Obstbäumen wächst jedenfalls rasch enorm an.
CNN und indonesische Märchenerzähler, lokale Eigenheit und globale Trends, traditionelle Lebensformen und spätkapitalistische Rationalität stoßen regelmäßig aufeinander in den Filmen, die in Nyon zu sehen waren. In The North Star von Erkko Lyytinen sind es die Arbeiter des nordfinnischen Werks einer spanischen Waggonbaufirma, die gemeinsam mit ihrem Bürgermeister nach Helsinki reisen, um dort die staatliche Hilfe einzufordern, die es nach neuem EU-Recht gar nicht mehr geben darf. Eine begleitende Sozialstudie, der es - auch durch ein klares Kamerakonzept - gelingt, vom Sozialen einmal als Beziehungsgeflecht zu erzählen und nicht in Form anrührender Individualschicksale wie meist.
Wie aber erzählt man von einer sterbenden Kultur? Die Filmemacher Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio haben seit Anfang der siebziger Jahre in vielen Filmen das Leben der nordeurasischen Ureinwohner begleitet. Auch die Tschuktschen sind so ein Volk, sibirische Nomaden, die mit den Waffen der Zivilisation von der russischen Zentralmacht fast aufgerieben worden sind. So steht die alte Ida Kymyrytyne, die von den Russen in Zonya umgetauft wurde, jetzt vor der gigantesken Kulisse eines Petersburger Plattenbaus, wenn sie die Legenden ihrer alten Heimat erzählt. Doch vor ihr brandet das gleiche Meer, mit dem das Leben der Tschuktschen so eng verbunden war. Wie Weerasethakul mit seinen sprechenden Dschungelwesen so versucht auch Fata Morgana den Bilderwelten der Tschuktschen-Kultur mit animierten Marionettenszenen eine eigene filmische Form zu geben: Walrossfrauen. Die Welt nach dem Tod als idyllisches Paradies. Und auch - in überdeutlich stilisierter Form, der Tod selbst, der bei den Tschuktschen traditionell durch eine Form ritueller Sterbehilfe an den Alten praktiziert wird. Eine nach westlichen Maßstäben auf den ersten Blick barbarische Form der Regulierung des Generationenverhältnisses.
Das aktuelle Gegenbild dazu lieferten Eric Black und Frauke Sandig mit Frozen Angels, einer ebenso unterkühlten wie intelligenten Studie aus den reproduktionstechnischen Laboren Südkaliforniens, wo die Ausdifferenzierung der menschlichen Spezies nach Maßgabe der ökonomischen Potenz in naher Zukunft zu liegen scheint.
Die unterschiedlichsten Themen also. Und doch auch immer wieder das Gleiche: In erstaunlich vielen der in Nyon zu sehenden Filme werden substantielle Fragen menschlicher Existenz und Zukunft in einer ungewöhnlichen und auch ästhetisch widerständigen Freiheit verhandelt. Gerade in den Beiträgen von außerhalb der westlichen Welt ist dabei eine neue Selbstsicherheit zu bemerken: Eine Vielfalt filmsprachlicher Ansätze, die sich auch von den traditionellen Mustern globalisierungs- und sozialkritischen Filmemachens löst und ihre - durchaus vorhandenen - sozialen Anliegen mit existenziellen und spirituellen Fragen verknüpft. Manche Filme aus dem alten Europa (auch deutsche wie Sibylle Tiedemanns familiäre Spurensuche Estland Mon Amor oder Volker Koepps Pommerland), die vor einigen Jahren noch unser Herz entflammt hätten, scheinen aus dieser erweiterten globalen Perspektive plötzlich wie merkwürdig biedere Repräsentanten einer sehr begrenzten Welt. Das soll keine Kritik an diesen Filmen sein, die ihre Anliegen äußerst redlich betreiben. Doch im globalen Dorf haben sich wohl endlich einmal wirklich die Perspektiven verschoben. Und so sehen wir uns plötzlich als das, was wir eigentlich immer schon waren: Eine Stimme von vielen aus einem kleinen ziemlich provinziellen Land irgendwo auf der großen Welt.
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