Dass es ausgerechnet ein französischer Dokumentarfilm war, der das Sozialleben der Kaiserpinguine zum Politikum gemacht hat, ist eine schöne Ironie des Weltgeists. Amerikanische Fundamentalisten nämlich wollen in Brutpflege und Paarverhalten der Vögel das leuchtende Vorbild für menschliche Familienwerte sehen. Die Produzenten von Die Reise der Pinguine haben sich von solcher Lesart ihres Films distanziert, auch wenn ihre menschelnden Kommentare einiges zu ihr beigetragen haben dürften.
Dass die Idee, die Natur filmisch in familienpolitischen Dienst zu stellen, weder neu noch ein Privileg konservativer Kreise ist, zeigt ein kleiner Film aus dem Jahr 1931, der in einer heute wunderlich anmutenden Mischung aus antiaristokratischer Propaganda und medizinischer Aufklärung "das Leben" feiert. Dabei werden neben anderen Tieren auch "der Herr und die Frau Pinguin" als Zeugen für die genau gegenteilige Botschaft herangezogen: "Im Paradies auf Erden lebt jeder seine Lust" heißt es im begleitenden Lied - und dann noch deutlicher "...als Adam längst Papa war, da war er nicht getraut". In Deutschland fiel Alexis Granowskys Das Lied vom Leben wegen solcher Verleitung zur Unmoral und einer gezeigten Kaiserschnittoperation der Zensur zum Opfer. Jetzt war er auf der diesjährigen Viennale in einem von vier Programmen zum Proletarischen Kino in Österreich zu sehen, das mit Fritz Rosenfeld den bedeutendsten Filmkritiker der Ersten Republik vorstellte: Einen Sozialisten, der sich mit seinen gegen Militarismus und Kitsch gerichteten Kritiken für die Arbeiter-Zeitung auch die kommerziell orientierte offizielle Filmpolitik der Sozialdemokratie zum Feinde machte. Granowskys Das Lied vom Leben feiert Rosenfeld als den "ersten vollkommen vom Theater losgelöste(n), mit neuen Ausdrucksmitteln gestaltete(n) Tonfilm". Und auch heute noch muten die kühne Metaphorik und die freie Kontrapunktik von Bild und Ton, Narration und dokumentarischen Elementen ebenso modern an, wie der naive fortschrittsgläubige Impetus des Films irritiert.
Eine produktive Irritation, wie sie aus dem Widerspruch und der Konfrontation mit dem fremden Vertrauten entsteht, die historische Erkenntnis ausmacht. Das Kino ist wie kein anderes Medium dazu geschaffen, solche historischen Bezüge und Brüche als Material zu bewahren und zum Leben zu bringen. Die Orte aber solch cineastischer Erfahrung sind begrenzt, weil der Durchmarsch der aktuell auf den Markt geworfenen Produktionen mittlerweile auch das Angebot vieler Programmkinos und Festivals bestimmt. Die Viennale in Wien ist ein Ort filmischer Begegnung, der sich von solchem Treiben ausdrücklich distanziert: Das Festival versteht sich, so Festivalleiter Hans Hurch, als "Versuch einer Intervention", "Kino anders als in Kategorien des Marktes und des Kulturbetriebs zu denken". So verzichtet das Festival bewusst auf einen Wettbewerb und verweigert sich dem für sogenannte A-Festivals nötigen Zwang, auf andernorts schon Gezeigtes zu verzichten. Das macht ein Programm möglich, das sich ausschließlich an der Qualität der Filme orientiert und sich nicht von verleihpolitischen Interessen abhängig macht.
Zusätzlich nimmt sich das Festival die Freiheit, auch neben der jeweiligen großen Retrospektive mit älteren Filmen im Programm Akzente zu setzen. So hat auch die diesjährige Rückschau auf das filmische Werk von Andy Warhol vielfältige Spiegelungen in anderen Sektionen wie etwa die Wiederaufführung des lange Zeit verschollenen Vietnam-Antikriegsfilm Captain Milkshake (Richard Crawford, USA 1970), der heute eine neue, bittere Aktualität bekommt. Auch Following Sean von Ralph Arlyck schlägt die Brücke zwischen Jetzt und Damals und wirft einen Blick zurück in das mythische Flower-Power-San Francisco der Endsechziger, wo der Regisseur als Filmstudent den vierjährigen Sohn einer benachbarten Hippiefamilie porträtierte: Ein Kurzfilm, der damals auch wegen Seans - so heißt der Junge - offensichtlich intimen Kenntnissen von Drogengebrauch und freier Liebe viel Staub aufwirbelte. Über dreißig Jahre später geht Arlyck zurück nach Haight Ashbury und sucht Sean und die anderen Mitglieder der Hippiefamilie, die längst getrennt an verschiedenen Orten leben. Im Unterschied zu anderen biografischen Auseinandersetzungen mit dieser Zeit sind sowohl Arlyck und sein "Held" so sehr in der Gegenwart angekommen, dass sie es nicht nötig haben, alte Rechnungen zu begleichen. Am Ende fällt der offene Blick auf den Anderen mit ebensolcher Offenheit auf den Filmemacher selbst zurück.
Wie viele tausend Möglichkeiten gibt es, Geschichte im Kino zu erzählen? Der kühnste Versuch, sich Geschichte filmisch anzunähern, kam in Wien wohl von Klaus Wyborny, der in Eine andere Welt die Reise des Kolumbus nach Trinidad in fünf - Gesängen genannten - Kapiteln imaginiert. Zur selbst komponierten Klaviermusik in der Kamera geschnittene Meer- und Himmelsansichten bilden dabei den Rahmen für einen Mittelteil, der zu drei Gedichten von Durs Grünbein einen Anker in die Antike schlägt: Eine auch in der Struktur musikalische und ebenso abstrakte wie sinnliche Meditation über Geographie und Geschichte. Auch Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi Frammenti Electtrici N. 4-5. Asia-Africa kann man als Meditation betrachten. Die beiden Found-Footage-Künstler richten hier ihre Methode, gefundenes Bildmaterial neu zu komponieren und zu bewerten, auf touristische Amateurfilme aus Asien und Afrika der frühen siebziger Jahre, die sie mit viel Zeitlupe und einem suggestivem Soundteppich zu einer Stunde farbenfroher Urlaubsimpressionen zusammenschmieden. Das sieht wunderschön aus, macht aber Sinn nur für solche Zuschauer, die genug über die historischen und sozialen Kontexte wissen, um das Gesehene in einen eigenen Bedeutungszusammenhang zu ordnen. Konträr dazu arbeitet ein Film wie The Black and White Milk Cow, der das Allgemeine aus dem ganz Konkreten entwickelt: Der Pekinger Filmstudent Yang Jin erzählt vom Leben in einem abgelegenen chinesischen Dorf, wohin der junge Jinsheng nach einem Studium in der Stadt als Lehrer zurückkommt. Die Milch der titelgebenden Kuh muss als einzige Entlohnung herhalten. Es passiert nicht viel. Doch am Ende ist die Welt eine andere. Jingshengs Großmutter ist gestorben. Die älteste Schülerin ist als Haushaltshilfe in die Stadt gegangen. Und auch Jinsheng wird bald fortgehen.
Den radikalsten Versuch, von sozialer Veränderung zu erzählen, macht der philippinische Filmemacher Lav Diaz mit seinem elfstündigen Familienporträt Ebolusyon ng isang pamliang pilipino. Der Film, der das Leben philippinischer Bauern über die politischen Umbrüche der Jahre von 1971 bis 1987 erzählt, versucht politische und private Geschichte in einer Struktur zusammenzubringen, die nicht nur formal den Rahmen sprengt. Ebolusyon lässt in seinen grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern Traum und Realität zu einem filmischen Kosmos zusammenfließen, der vom Leben in der Natur und in der Geschichte erzählt. Ein guter Tausch: Der Zuschauer bekommt für einen Tag Lebenszeit ein ganzes Leben an Erfahrung. Das ist mehr als manchmal draußen in der sogenannten Wirklichkeit: Der Spezial-Schnellzug von Wien-Zentrum zum Flughafen jedenfalls hat die Fenster so verklebt, dass man die Welt davor nur noch in Pixeln sehen kann.
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