Gleichzeitig ungleichzeitig

Doku Andreas Hoessli setzt die Revolutionen von Polen und Iran 1979/80 in Dialog
Ausgabe 07/2021

Es ist unverkennbar die Stimme von Bruno Ganz, die gleich zu Anfang des Films bei einer Autofahrt durch eine menschenleere Stadt aus dem Off vom geträumten Besuch eines verstorbenen Freundes spricht. Redet da etwa ein Geist über einen anderen? Denn auch Ganz ist ja im Februar 2019 verstorben. Intention war diese Doppelung wohl nicht. Und die Lösung ist einfach: Der jetzt als Online-Stream erscheinende Film des Schweizer Regisseurs Andreas Hoessli ist zwei Jahre alt. Und so könnte die Sprechrolle als Hoesslis kommentierendes Alter Ego einer der letzten Auftritte des an Krebs erkrankten großen Schweizer Schauspielers gewesen sein.

1978 war der Soziologiestudent und spätere Journalist Hoessli mit einem zweijährigen Promotionsstipendium nach Polen gereist, um dort die Strukturen der sozialistischen Planwirtschaft zu erforschen. Er geriet in unruhige Zeiten: den Streik der Gdansker Werftarbeiter und -arbeiterinnen, aus dem später die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność hervorgehen sollte. Dass Hoessli bei seinen Tätigkeiten Kontakt zu einigen Oppositionellen aufnahm, machte ihn auch interessant für die Staatssicherheit SB, die ihn als sogenannten Figuranten führte. Außerdem begegnete der angehende Journalist dem damals schon legendären (und von ihm bewunderten) polnischen Kollegen Ryszard Kapuściński, der selbst gerade aus dem aufgewühlten Iran zurückgekehrt war, wo er als Korrespondent die wachsenden Proteste gegen das Schah-Regime begleitet hatte.

Heute ist Hoessli ein gestandener Schweizer Dokumentarist, der vierzig Jahre später wieder zu Recherchen nach Polen und auch in den Iran reiste. Das Ergebnis der Reisen ist dieser Film.

Gegenstand der Erforschungen sind die Spuren und mentalen Folgen der beiden so unterschiedlich verlaufenen Aufbruchsbewegungen, die Hoessli in Talking-Head-Statements damals Beteiligter (und einer jungen iranischen Künstlerin), gut ausgewählten, aussagestarken Schnipseln aus Archivfilmen und eigenen beobachtenden Aufnahmen aus dem Jetzt darstellt: etwa einem ausführlichen Besuch der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Revolution in Teheran, wo Frauen und Männer mit Postern „Tod den USA“ fordern. Oder langen Fahrten durch Warschau im Zwielicht. Dazu Gespräche mit polnischen Geheimdienstlern über die Psychologie der Anwerbung anhand des eigenen Falls.

Verbunden werden die achtzehn „Fragmente“ durch Ganz’/Hoesslis persönlich-auktoriale Erzählung, in die wiederholt Sequenzen aus den Texten Kapuścińskis einfließen. Dessen doppelte Präsenz bei den Konflikten im Iran und in Polen ist auch inhaltliche Klammer des Films und Basis der künstlerischen Parallelisierung der zwei unterschiedlichen historischen Ereignisse. Die Montage von Lena Rem verknüpft Ton- und Bildebenen raffiniert, sodass ein ästhetisch faszinierendes Geflecht unterschiedlicher Ebenen und Texturen entsteht. Inhaltlich erfüllt sich die Hoffnung auf einen erkenntnisbringenden Dialog beider Bewegungen nicht ganz – nicht zuletzt, weil Hoesslis Begriff von Revolution bis zum Ende unklar bleibt. Was auch am Anekdotischen vieler Statements liegt, aber auch an der Ausblendung sozialer und politischer Realitäten, die sich im Idealismus von Kapuścińskis Ansichten spiegelt. Merkwürdigerweise bleiben auch die 2010 erfolgte Aufdeckung gewisser an die Sache Relotius erinnernder Unsauberkeiten in Kapuścińskis Arbeitsweise und seine Verbindungen zum Geheimdienst unerwähnt, dabei gäbe das dem Film interessante Facetten. So bleibt ein sympathisch persönlicher Filmessay, der konzeptuell wenig überzeugt. Starke Momente sind die schillernden Auftritte polnischer Agenten und beeindruckende Archivbilder aus dem (vor-)revolutionären Iran.

Info

Der nackte König Andreas Hoessli Schweiz 2019, 108 Min., wfilm.de

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