Zusammen mit Tausenden anderen wurde der Filmemacher Patricio Guzmán nach dem Militärputsch gegen die Regierung von Salvador Allende 1973 im Nationalstadion von Santiago de Chile festgehalten. Weil er auch im Besitz eines spanischen Passes war, kam er im Unterschied zu vielen anderen nach zwei Wochen frei und konnte ausreisen – erst nach Kuba und dann nach Paris, wo der mittlerweile über 80-Jährige bis heute lebt und arbeitet. Diese Arbeiten aber beschäftigen sich in all den Jahrzehnten immer wieder mit der gewaltvollen Geschichte seines Herkunftslandes.
Letztes großartiges Zeugnis dieser Besessenheit war eine in den Jahren 2010 bis 2019 herausgekommene Trilogie, die sich in Nostalgia de la Luz (Nostalgie des Lichts), El botón de nácar (Der Perl
tón de nácar (Der Perlmuttknopf) und La Cordillera de los suenos (Die Kordillere der Träume) mit Präzision und existenzieller Tiefe verschiedenen Aspekte dieser Geschichte widmete, von Ausgrabungen in der Atacama-Wüste bis hin zu den indigenen Kulturen zwischen den Wasserströmen des Südens. Immer mit dabei: die Erinnerung an die Diktatur und ihre Folgen.Eingebetteter MedieninhaltAls im Oktober 2019 die chilenische Jugend, für ihn überraschend, erst gegen Fahrpreiserhöhungen und dann für ein besseres Leben auf die Straßen ging, war Guzmán sofort fasziniert. Und reiste dann bald nach Chile, um mit Kameramann Samuel Lahu zu drehen, wenn die AktivistInnen ihre Wut hinausschrien oder -trommelten und den schwer bewaffneten Militärs in Straßenkämpfen trotzten. Denn von der Regierung unter Präsident Sebastián Piñera wurde das jugendliche Aufbegehren sofort gewaltsam mit Notstandsrecht und Armee gekontert. Die Politologin Claudia Heiss erklärt, dass diese auch im Film sichtbare staatliche Brutalität ebenso mit der fehlenden Aufarbeitung der Diktatur in Militär und Polizei zu tun habe. Sie ist eine von einem ganzen Dutzend Aktivistinnen, Analystinnen und Unterstützerinnen, die im Film in ausführlichen Gesprächen vor der Kamera zu Wort kommen. Das ist kein generisches Femininum: Denn Guzmán lässt in seinem Film (außer Archivmaterial von zwei Präsidenten Chiles) nur Frauen auftreten – neben dem deutlich sympathisierenden Kommentar ein weiteres Bekenntnis des Regisseurs zu der aus den Protesten hervorgegangenen, breit aufgestellten kulturellen Aufbruchsbewegung gegen patriarchale Dominanz und für sozialen Fortschritt.Hoffnung auf VeränderungNach einem Jahr führte die „indignación“ wirklich zu dem von den Protestierenden geforderten Referendum, bei dem 80 Prozent der teilnehmenden ChilenInnen eine konstituierende Versammlung für die Erarbeitung einer neuen demokratischen Verfassung befürworteten. Eine Versammlung, der erstmals eine Frau aus dem indigenen Mapuche-Volk als Präsidentin vorstand. Auch viele andere Abgeordnete treten mit Leidenschaft für Teilhabe aller Teile der chilenischen Gesellschaft an diesem großen Projekt der Zukunft ein. Die Hoffnung auf Veränderung (aber auch die Repression) ist für Guzmán ein Déjà-vu zum Aufbruch der Allende-Zeit. Und die aus dem Gestein der chilenischen Anden gebrochenen Wurfgeschosse der Aufbegehrenden knüpfen filmisch an Die Kordillere der Träume an, wo der Fels real und metaphorisch eine tragende Rolle im Rückblick auf die gewalttätige Geschichte des Landes spielte. Doch dem von spürbarem persönlichen Engagement getragenen Film fehlen diesmal notwendige Konkretionen zum politischen Verfahren und auch das Interesse für die heftige Debatte in Chile um das Projekt. In diesem Sinn ist es wohl Ausdruck von Guzmáns Wunschdenken, wenn der Film hoffnungsvoll mit einer flammenden Rede des im März 2022 gewählten jungen linken Präsidenten Gabriel Boric endet. Auf den Ausgang des für September angesetzten – und negativ ausgegangenen – Referendums über die vorgeschlagene neue Verfassung wollten Regie und Produktion offensichtlich nicht warten. Den Film hätte diese Dimension inhaltlich sowohl verkompliziert als auch bereichert. Doch aus der Uraufführung in Cannes letztes Jahr wäre nichts geworden.Placeholder infobox-1