Die Augen sind ganz wach, das Gesicht drum herum tief zerfurcht. Dabei ist Marish erst knapp über fünfzig Jahre alt. Die Falten kommen vielleicht auch von zu viel Zigaretten und Kaffee. Doch auf jeden Fall von Arbeit und Sorgen. Denn Marish hat zwei kraftraubende Arbeitsstellen. Einmal sind da die Zwölf-Stunden-Schichten in einer Fabrik, für die sie eigentlich 550 Euro im Monat bekommen sollte. Wenn sie dort freihat, arbeitet sie im Haushalt einer Familie. Dort ist Marish trotz beengt kleinbürgerlicher Verhältnisse eine von mehreren Bediensteten. Sie räumt auf, putzt, macht Betten und serviert Essen und Bier. Lohn bekommt sie nicht, sogar der aus der Fabrik wird ihr von der Herrin noch abgenommen. Dafür gibt es gratis Kaffee und Zigaretten – un
und zu essen: das, was von den Mahlzeiten der Familie übrig bleibt. Marish gehorcht dem Regime widerwillig, ihr einziger offener Widerstand ist, nicht im zugewiesenen Bett, sondern auf einem Sofa im Wohnzimmer zu nächtigen.Dort beginnt auch der Dokumentarfilm der ungarischen Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter: Dabei sehen das morgendliche Aufwachen und die folgenden Routinen wie Gänsefüttern und Kaffeekochen erst einmal so aus wie ein ganz normaler Tagesanbruch einer in ländlichen Verhältnissen lebenden Frau. Doch dann hören wir nach etwa fünf Minuten eine Frauenstimme mit herrischen Handlungsanweisen und Befehlen aus dem Off. Und im Bild sieht man von schräg hinten ein paar Strähnen blondes Haar über einem Pelzkragen und Finger mit rot lackierten Nägeln, die eine Zigarette halten. Viel mehr wird man von Marishs Herrin Eta nie sehen, selbst bei einem kurzen Dialog mit der Filmemacherin später im Film sind wieder nur ihre von jeglicher Hausarbeit unbefleckten Hände zu sehen. Auch der Rest der Familie taucht nur schemenhaft beziehungsweise nur auf der Tonspur auf.Unsichtbare AbhängigkeitenEine Bemerkung Etas („Du filmst mein Gesicht nicht, oder?“) deutet auf Absprachen zur Anonymisierung hin. Doch die Auslassungen sind auch ein filmisches Stilmittel, um die klaustrophobische Situation im nach außen scheinbar abgeschlossenen Haus zu verdichten. Und die Konzentration auf Marish zu lenken, der die Kamera – ohne je aufdringlich zu wirken – oft aus nächster Nähe bei ihren Verrichtungen folgt. Im Laufe des Films bekommt dann auch die Filmemacherin und Kamerafrau selbst mehr Präsenz, wenn sie bei einer Näharbeit mit Marish interagiert oder in unbeobachteten Situationen von ihr erzählt bekommt: dass Marish nicht ohne Erlaubnis aus dem Haus gehen darf und immer wieder auch geschlagen wird. Und dass ihre jüngste, 16-jährige Tochter aus dem Haus von Eta weggelaufen ist, weil sie ebenfalls missbraucht und ausgebeutet wurde und nicht zur Schule gehen durfte. Jetzt lebt sie in einem Kinderheim, Marishs größter Wunsch ist ein Leben mit ihr im eigenen Zuhause.Emotionale und erzählerische Bewegung kommen in die gezeigten täglichen Routinen durch die (gegenüber Eta verheimlichte) Annäherung zwischen der Porträtierten und der Filmemacherin, die anfänglich eigentlich über die Bekanntschaft mit der Hausherrin zum Filmprojekt kam. Jetzt stellt sie Marish bei einem Gespräch die naheliegende Frage, warum sie nicht schon längst von diesem Ort des Leidens geflohen sei. „Weil ich nicht weiß, wohin. Und ich habe niemanden, der mir hilft“, sagt Marish. Starke Worte. Doch dass sie diese gegenüber der Filmemacherin äußern kann, ist schon das erste Signal einer Veränderung, die dann auch wirklich kommt. Denn Tuza-Ritter verstößt ganz bewusst gegen das dokumentarfilmerische Gebot, nicht in das Leben der Protagonisten einzugreifen, und unterstützt Marish bei ihren bald konkreteren Fluchtplänen. Dennoch gibt es im Vertrauensverhältnis auch immer wieder Rückschläge.Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter gliedert ihren atmosphärisch dichten und mit Ellipsen geradlinig erzählten Film mit Texttafeln, die Fakten und Hintergrund erläutern: etwa, dass 45 Millionen Menschen auf der Welt in Sklaverei leben, 1,2 Millionen davon in Europa. Dass die Filmemacherin irgendwann Geld an Eta zahlen musste, um weiterdrehen zu dürfen. Oder dass sie heimlich anonym mit der Polizei Kontakt aufgenommen hatte, die sich aber – wie von Marish schon vorhergesehen – nicht zuständig fühlte. Andere Zusammenhänge bleiben wohl mit Absicht fragmentarisch, etwa die genaueren Umstände der Geschehnisse, die Marish in Abhängigkeit von Eta brachten. Oder, warum sie nicht ihre teils erwachsenen Kinder um Hilfe bittet. Diese Leerstellen tun dem Film gut, weil sie neben dem sicherlich ergreifenden Einzelschicksal den Raum auch für andere Möglichkeiten öffnen.Es sei verraten, das Marish die Flucht gelingt. Und dass sie sich dann wieder Edith nennt, Marish sei nur ihr „Sklavenname“. Sie mache bei diesem Film mit, weil sie hoffe, dass sich dadurch etwas an den Verhältnissen ändern werde, sagt Marish einmal, eine Intention, die sie mit Regisseurin und Produzentinnen teilt. Denn bisher ist die Not versklavter Menschen auch in Europa bisher wenig bekannt und ohne wirksame Lobby und Hilfe. Selbst ein von Marish angerufenes Gewalt-Krisentelefon unterstützt nur Opfer innerfamiliärer Gewalt. Der Hoffnung auf größere Öffentlichkeit lässt sich so nur zustimmen. Dennoch ist es die große Stärke dieses Films, dass seine ästhetische Kraft weit über dieses Anliegen hinausgeht.Placeholder infobox-1