Stimmen an und off

Werkschau Dem Filmemacher Philip Scheffner gelingt der Brückenschlag zwischen Kunst, Kino und Politik
Ausgabe 01/2021

„Wird es ein Film über Tempel?“, fragt der indische Konsularbeamte den Filmemacher, der wegen einer Drehgenehmigung bei ihm vorstellig wird. „Nein, es ist eher eine Geistergeschichte“, antwortet dieser von hinter der Kamera. Schnitt: Aus einer milchig vernebelten Fläche konkretisiert sich eine Flussidylle mit Bäumen, während eine männliche Stimme zum Knistern eines Tonträgers von Illusion und Vergänglichkeit des Lebens singt und eine „true story“ ankündigt. Dann Blick in einen dunklen schmalen Archivraum.

Hier seien Schellackplatten mit Stimmen gelagert, heißt es aus dem Off, über 7.000 insgesamt, aufgezeichnet während des Ersten Weltkriegs im sogenannten Halbmondlager in Wünsdorf bei Berlin. Dort wollte das mit den Osmanen verbündete Kaiserreich muslimische Kriegsgefangene der britischen und französischen Kolonialtruppen zur Desertion und zum Dschihad gegen ihre koloniale Herrschaft motivieren. Zugleich nutzten Wissenschaftler die Gelegenheit zu anthropologischen Forschungen, in deren Rahmen auch der damalige Leiter des Lautarchivs der Preußischen Staatsbibliothek mit dem neu entwickelten Phonographen „Sprechakte“ der im Lager anwesenden Männer aufzeichnete. Diese sind das Grundmaterial von Philip Scheffners Film The Halfmoon Files. Sie zeigen unter anderem auch, wie manche der Sprecher die Gelegenheit nutzten, statt der vorgegebenen Lautfolgen eigene, das standardisierte Format sprengende Kommentare abzugeben.

Scheffner hat seinen Stoff gründlich recherchiert. Der selbstgelernte Hörspielmacher findet vier Jahre nach seinem ersten Experimentalfilm a/c in The Halfmoon Files die perfekte Form für einen dichten und erhellenden Filmessay, der die Geschichtsschreibung des deutschen Kolonialismus ebenso bereichert wie die Form des Dokumentarfilms. Zur Erinnerung: The Halfmoon Files feierte 2007 auf dem Forum des Jungen Films seine Uraufführung, als die heute so virulente Beschäftigung mit Praxis und Folgen deutscher Kolonialpolitik weitgehend noch auf den wissenschaftlichen Kontext beschränkt war.

Ausschweifende Recherche

Auch die beiden nächsten Filmarbeiten Philip Scheffners profitierten von der Kombination ausschweifender Recherche mit selbstreflektierender inszenatorischer Intelligenz. Der Tag des Spatzen (2010) schließt die Leidenschaft und Geduld bei der Beobachtung von Vögeln mit dem Studium deutscher Landschaften kurz und entfaltet eine Topografie mentaler und praktischer Militarisierung schon lange vor den ersten echten Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Dabei fließt die missglückende Kommunikation des Filmemachers mit den Pressestellen der Institution während der Produktion des Films als Metaebene ein.

In den Filmen Revision (2012) und And-Ek Ghes (2016) bezieht der Filmemacher auch seine Protagonist*innen in den Prozess des Filmemachens mit ein. Zum Anlass dient dabei in Revision eine Meldung aus dem Bereich „Vermischtes“, wo es um den gewaltsamen Tod zweier rumänischer Migranten im Jahr 1992 ging, die auf einem Feld an der deutsch-polnischen Grenze von Kugeln getroffen starben. Ein Tod, der viele Fragen aufwarf, von der deutschen Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen wurde. Und von der Justiz als Jagdunfall ohne genauere Untersuchung oder gar Befragung der Angehörigen abgehandelt und fallen gelassen wurde.

Scheffners Film istRevision“im doppelten Sinne: Einerseits kompensiert er fast zwanzig Jahre nach dem Vorfall durch Befragen der Familien der Opfer die juristischen Versäumnisse von damals wenigstens teilweise. Andererseits gibt er den Angehörigen die Möglichkeit, die eigenen Aussagen in einer zweiten Schleife noch einmal anzuhören und zu kommentieren. So entsteht neben der Wiederaufnahme des Falls ein Resonanzraum unterschiedlichster Stimmen aus dem Umfeld der beiden Opfer – und zugleich ein selbstbestimmtes Bild der betroffenen Roma-Gemeinschaft. In seinem Spin-off And-Ek Ghes dann übergibt Scheffner Co-Regie und Kamera in die Hand der Familie einer der beiden getöteten Männer – das Ergebnis ist eine mit Bollywood-Elementen gespickte, halbdokumentarische Fantasie über Leidens- und Glücksmomente einer Roma-Familie in Berlin.

Scheffners beste Filme zeichnet aus, dass ihnen der Brückenschlag gelingt zwischen einem vor allem an den politischen Themen interessierten Publikum und den spezialisierten Film-Kunst-Adepten. Nicht ganz so produktiv und originell erscheint diese Bewegung bei seinem bisher letzten Film Havarie, der sich mit der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer befasst. Havarie montiert den zu 90 Minuten gedehnten Drei-Minuten-Clip einer im Meer taumelnden, überbesetzten Nussschale mit Stimmen und Tönen aus sehr diversen Quellen. Das mag als Konzept im Galerie-Kontext überzeugen, endet für den Filmbetrachter aber in der anstrengenden Bemühung, die Tonschnipsel irgendwie zu kontextualisieren – bis der Abspann zumindest ein paar Erklärungen bringt. Wie alle Filme Scheffners wurde auch Havarie vielfach preisgekrönt und ekstatisch besprochen. Leider beziehen sich die Elogen aber oft auf das, was man im Nachhinein über Scheffners Filme herausbekommt, und weniger auf ihre Wirkung im Kino.

Info

Werkschau Philip Scheffner, 1. bis 31. 1 2021, Arsenal 3 (Streamingbereich des Berliner Kinos Arsenal), 11 €/Monat, arsenal-3-berlin.de

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