Das Maß der Dinge

Hirntod Ein Missgeschick wird zum Notfall, am Ende liegt Horst Lippke auf der Intensivstation. Doch der eigentliche Albtraum beginnt erst dann
Ausgabe 19/2015

Beim Festessen anlässlich seiner goldenen Hochzeit verschluckt sich Horst Lippke. Der 73-Jährige erleidet einen Atemstillstand und bricht bewusstlos zusammen. Er wird zweimal reanimiert und gegen 20.30 Uhr ins Klinikum Worms eingeliefert. Dort stellen die Ärzte die Diagnose: Hirnschaden aufgrund von Sauerstoffmangel. Horst Lippkes Gehirn wird gekühlt. Eine bewährte Standardtherapie, die weitere Schäden verhindern soll. Um Kältezittern und andere belastende Nebenwirkungen zu verhindern, bekommen Patienten dabei routinemäßig starke Beruhigungsmittel. Umso erstaunlicher ist, dass Horst Lippke laut Krankenakte keine entsprechenden Medikamente erhielt. Gibt es dafür einen Grund?

Wie vereinbart ruft die Ehefrau Ursula Lippke am nächsten Morgen gegen acht Uhr den diensthabenden Oberarzt an. Was sie nicht weiß: Dieser ist auch der Transplantationsbeauftragte des Klinikums. Ohne Umschweife stellt er sie vor die Alternative: Sollen wir die Geräte abschalten oder sind Sie mit einer Transplantation einverstanden? Eine solche Frage, so früh? Ursula Lippke ist entsetzt und lehnt ab, weil sie weiß, dass ihr Mann keine Organe hätte spenden wollte. Trotz der eindeutigen Absage wird bei Horst Lippke noch am selben Abend eine klinische Hirntoddiagnostik durchgeführt. Das setzt voraus, dass der Patient zuvor nicht sediert wurde, denn Schmerz- und Beruhigungsmittel verfälschen die Diagnose. Es drängt sich die Frage auf: Wurden Horst Lippke während der achtstündigen Kältetherapie etwa aus diesem Grund keine Beruhigungsmittel verabreicht?

Die Klinik sieht die Kriterien für eine Spendermeldung als erfüllt an. Sie meldet den Patienten an die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO). Zwecks „Irreversibilitätsnachweis“, wie es in der Akte heißt. Es soll der Beweis erbracht werden, dass Horst Lippke hirntot ist. Eine Mitarbeiterin der DSO reist an. Sie misst die Gehirnströme mit einem EEG. Doch das Gerät zeigt: Horst Lippke ist nicht hirntot.

Die Behandlung, die Horst Lippke widerfahren ist, kann jedem Patienten passieren, wenn er als Notfall auf eine Intensivstation eingeliefert wird, auch alten Menschen mit Schlaganfällen oder Gehirnblutungen. Die Transplantationsbeauftragten der Kliniken sind darauf geschult, mögliche Organspender zu identifizieren und haben freien Zugriff auf Patientendaten. So zumindest steht es im Bericht zur sogenannten Inhousekoordination des Deutschen Krankenhausinstitutes von 2012. Bei aussichtsloser Prognose soll „neurologische Progredienz“, zugelassen werden, das heißt das Fortschreiten des Zustands. Besteht der Verdacht auf einen sich abzeichnenden Hirntod, wird der Patient, so wie Horst Lippke, nicht mehr mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln versorgt.

Umstrittene Wiederbelegung

Von diesen Hintergründen wissen die meisten Menschen nichts. Oft legen sie in einer Patientenverfügung fest, dass sie in einer aussichtslosen Situation möglichst schmerzfrei, ruhig und begleitet sterben wollen. Bei möglichen Organspendern geschieht genau das Gegenteil. Künstliche Beatmung und intensivmedizinische Maximaltherapie sind notwendig, um die Organe für die spätere Transplantation in möglichst gutem Zustand zu erhalten. Das sei eine Behandlung, die nicht dem Patienten, sondern ausschließlich anderen nütze, meint der Anästhesist und Medizinethiker Meinolfus Strätling: „Die Patienten erhalten eine hochinvasive Intensivtherapie, zum Beispiel eine Blutwäsche und Transfusionen. Dazu gehören auch Maßnahmen wie Herzkatheter und Echokardiografie.“ Also Verfahren, bei denen Katheter in die Gefäße des Patienten eingeführt werden, um Röntgenaufnahmen zu machen. Diese spendezentrierte Intensivtherapie, sagt Strätling, sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es handele sich um Maßnahmen, die sich oft über Tage hinziehen. In 99 Prozent der Fälle sei das mit den Patientenverfügungen nicht vereinbar.

Einige bereits aufgegebene Patienten, deren Atmung und Herz-Kreislauf-System künstlich aufrechterhalten werden, erleiden manchmal einen Herzstillstand. Um die geplante spätere Organentnahme zu ermöglichen, werden sie in solchen Fällen wiederbelebt. „Das darf man eigentlich nur“, sagt der Kölner Staatsrechtler und Mitglied des Ethikrats Wolfram Höfling, „wenn der Betreffende dieser Prozedur auch zugestimmt hat.“ Der Jurist geht davon aus, dass es nicht viele Patienten gibt, die in ihrer Patientenverfügung oder Organspendeerklärung etwas in diesem Sinne formuliert haben. In den offiziellen Aufklärungsbroschüren liest man von solchen Problemen nichts. Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hüllt sich darüber in Schweigen.

Inzwischen haben die 26 Mitglieder des Deutschen Ethikrats das heikle Thema aufgegriffen. Sie fordern, dass die Bevölkerung über „spendezentrierte Maßnahmen“ umfassend aufgeklärt wird und Art, Umfang und Dauer im Transplantationsgesetz neu geregelt werden. Völlig ungeklärt ist bisher, wer darüber überhaupt bestimmen könnte. Denn Vorsorgebevollmächtigte und Betreuer dürfen nach geltender Rechtsprechung nur in Therapien einwilligen, die dem Patienten selbst nützen, nicht dem späteren Organempfänger. Anders verhält es sich nur, wenn der Patient in der Organspendeerklärung sein ausdrückliches Einverständnis gegeben hat. Dazu müsste er aber wissen, worauf er sich einlässt.

Wann ist das Leben zu Ende?

Der Hirntod ist das Kriterium für den Tod des Menschen: Die Mehrheit des Deutschen Ethikrats will nicht von dieser Prämisse abrücken, obwohl zuerst in den USA, dann in Europa eine Reihe von Einwänden gegen die Gleichsetzung des menschlichen Todes mit dem Hirntod erhoben worden war.

Eine Ratsminderheit sprach sich allerdings dagegen aus, weil sie davon überzeugt ist, dass ein Organismus, auch nachdem das Gehirn abgestorben ist, über vielfältige, wenn auch apparativ unterstützte Funktionen verfügt. Der Stoffwechsel lässt sich aufrechterhalten, eine Schwangerschaft kann erfolgreich beendet werden und ein Kind zur sexuellen Reife gelangen. Die Selbststeuerung des Organismus sei nicht nur vom Gehirn abhängig und ein hirntoter Patient zwar als sterbender Mensch anzusehen, aber er interagiere weiterhin mit seiner Umwelt. Um das in Deutschland ohnehin unter Verdacht geratene Transplantationssystem dennoch legitimieren zu können, zog sich die Ratsminderheit auf den Willen der Betroffenen und ihr Selbstbestimmungsrecht zurück.

Die kürzlich aufgedeckten Skandale von Patienten, die nicht zweifelsfrei hirntot waren und denen dennoch Organe zur Transplantation entnommen wurden, zeigen nur mäßige Wirkung: Die Bundesärztekammer verschärft ihre Richtlinien zur Hirntoddiagnostik. Einer der beiden erforderlichen Diagnostiker muss künftig ein Neurologe oder ein Neurochirurg sein. Ulrike Baureithel

Zurück zu Horst Lippke. Während des Klinikaufenthalts wird auf der Intensivstation immer wieder getestet, ob nicht doch schon sein Hirn irreversibel ausgefallen ist. Vergeblich, laut Krankenakte sind im EEG nach wie vor Aktivitäten und eine Restdurchblutung des Gehirns feststellbar. Für den Oberarzt eine peinliche Situation. Er hat die Ehefrau offenkundig vorschnell gefragt, ob die Behandlung abgebrochen werden soll oder ob sie mit einer Organspende einverstanden wäre. Trotz einer Hirnschwellung bekommt Lippke weiter keine Schmerz- oder Beruhigungsmittel. Sein Gehirn wird nicht entlastet. Normalerweise werden Patienten mit aussichtsloser Prognose mit diesen Medikamenten versorgt.

18 Tage nach Einlieferung des Patienten stellt der Oberarzt mit einer Neurologin schließlich den Hirntod des Patienten fest. Horst Lippkes Ehefrau wurde im Vorfeld darüber nicht informiert, obwohl sie gerichtlich bestellte Betreuerin ist. Sie saß ahnungslos vor der Tür. Dabei kann der bei der Hirntodfeststellung zwingend vorgeschriebene Apnoe-Test, ein Verfahren, das die Eigenatmung nachweist, den Patienten gefährden. Unter Juristen ist deshalb umstritten, ob für eine Hirntoddiagnostik die Einwilligung des Betreuers oder des Vorsorgebevollmächtigten vorliegen muss. Auch dieser wichtige Punkt ist im Transplantationsgesetz nicht geregelt. Der Oberarzt stellt den Totenschein aus und will die künstliche Beatmung abstellen. Die Angehörigen verweigern das. Sie haben, als sie an Horst Lippkes Bett saßen, immer wieder subtile Reaktionen festgestellt. Manchmal hatte er Tränen in den Augen, manchmal reagierte er auf Musik. Der Oberarzt versucht, die Einstellung der Beatmung über das Vormundschaftsgericht zu erzwingen. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation soll vermitteln. Das ist irritierend, denn die DSO ist nach Ablehnung der Organspende gar nicht mehr zuständig. Der Richter stellt fest, er könne das nicht entscheiden, vielmehr solle sich der Arzt mit den Angehörigen einigen. Die Situation spitzt sich immer mehr zu, der Chefarzt der Anästhesie übernimmt. Er verhält sich sensibler. Der offiziell für tot Erklärte wird weiter künstlich beatmet, er bekommt Physiotherapie und eine Lungenentzündung wird mit Antibiotika behandelt. Erst 28 Tage nach seiner Meldung an die DSO stirbt Horst Lippke ruhig und friedlich im Beisein seiner Angehörigen. Elf Tage davon galt er offiziell als Leiche.

Es fehlen klare Regeln

Der Fall hat jedoch noch ein juristisches Nachspiel. In ihrer Aufregung hat Frau Lippke nach der Feststellung des Hirntods eine Kostenübernahmeerklärung unterschrieben. Für die Behandlung des „hirntoten“ Patienten auf der Intensivstation soll sie 27.560 Euro bezahlen. Ursula Lippke ist dazu nicht bereit. Sie hat die Klinik verklagt. Das Verfahren läuft.

Die meisten der 26 Mitglieder des Ethikrats sehen bei „spendezentrierten Maßnahmen“ ohne eindeutige Zustimmung den Gesetzgeber in der Pflicht. Drei Räte, darunter der renommierte Transplantationsmediziner Eckhard Nagel, widersprachen dem in einem Sondervotum: Es gäbe keine „spendezentrierten“ Maßnahmen, heißt es, denn Ärzte würden sich prinzipiell auf das Wohl ihrer Patienten konzentrieren und nicht auf eine mögliche Organspende. Deshalb sei eine gesetzliche Regelung nicht notwendig. Doch der Fall von Horst Lippke zeigt, wie wichtig klare Regeln wären, ab wann jemand als möglicher Organspender behandelt werden darf. Denn was bei der Debatte um Organspende am meisten schadet, ist mangelnde Transparenz.

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