Großungarn und der kleine Italiener

Budapest Andrea Giuliano hat Nationalisten mit einem satirischen Auftritt herausgefordert. Seitdem trifft ihn der geballte Hass
Ausgabe 25/2015

Seit der Pride Parade vor einem Jahr ist das Leben von Andrea Giuliano zur Hölle geworden. Der italienische Fotograf und Menschenrechtsaktivist lebt seit Jahren in Budapest, er liebt die Stadt, doch manche Ungarn lieben ihn gar nicht. Ständig wird ihm auf allen möglichen Kanälen gedroht, man werde mit ihm abrechnen. Und das bald. Mitglieder der rechtsradikalen Partei Jobbik bedrängen ihn zu Hause oder in seinem Büro. Giulianos persönliche Daten werden auf Nazi-Portalen veröffentlicht. Der Grund für diese Aggressivität: Der Italiener engagiert sich für die Rechte von Schwulen, Lesben und Roma. Er nimmt es in fehlerfreiem Ungarisch mit den Parolen einer an Zulauf gewinnenden rechtsextremen Szene auf.

Dabei ist Giulianos Geschichte kein Einzelfall. Während Mitglieder der LGBT-Community – Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle – zunehmend in Gefahr geraten, schauen die Behörden und die populistische Regierung von Premier Viktor Orbán tatenlos zu. Teilweise bedienen auch sie sich einer homophob angehauchten Rhetorik.

Der Italiener wirkt erschöpft, tiefe blaue Ringe rund um seine strahlenden schwarzen Augen zeugen von vielen zu kurzen Nächten. Als er nach seinem Studium an einem europäischen Austauschprogramm für Praktikanten teilnahm, entstand zwischen ihm und Budapest etwas wie Liebe auf den ersten Blick. „Vielleicht war es die Art und Weise, wie das Licht die Straßenzüge berührt, vielleicht lag es an den Farben hier oder daran, dass diese Stadt immer ihr altes, grandioses Gesicht zu wahren versteht. Für diesen mitteleuropäischen Charme einer Metropole konnte man sich nur begeistern.“

Fließende Übergänge

Es war die Zeit kurz nach dem EU-Beitritt im Frühjahr 2004. Ungarn präsentierte sich als Erfolgsgeschichte im einstigen Ostblock: Trotz innerer Konflikte und fehlender sozialer Balance schien der Leumund des Landes tadellos. Es kamen Menschen aus anderen Teilen Europas, die an der Donau ein neues Zuhause suchten, um Lebensqualität, Abenteuer und Aufbruch zu erleben.

Spätestens 2009 allerdings, mit dem Ausbruch der EU-Finanzkrise, verdüsterte sich der rot-weiß-grüne Horizont. Zunächst traf es die Roma, die überfallen, gedemütigt und schikaniert wurden – acht Übergriffe endeten seither tödlich. Als die Schlägertruppen der paramilitärischen „Ungarischen Garde“ durch Dörfer zogen, um Roma-Familien einzuschüchtern, hielt es Giuliano für angebracht, Solidarität zu zeigen. „Ich schlief während dieser heiklen Zeit oft für ein paar Nächte in den betroffenen kleinen Orten, um Gefahren eventuell abwenden zu können, andere zu motivieren, es mir gleichzutun, und die Nazis in die Schranken zu weisen.“

Im Mai 2010 kam die rechtspopulistische Regierung der Partei Fidesz von Viktor Orbán an die Macht. „Von da an war es mit Budapest als offener, freundlicher, toleranter Stadt so gut wie vorbei“, erinnert sich Giuliano, der besonders darunter litt, wie Teile der ungarischen Gesellschaft verrohten. Nur ließ sich wenig dagegen tun, schließlich verfügte dieser Premierminister über eine komfortable Zweidrittelmehrheit im Parlament und eine unbestreitbare Popularität, die Orbán unter anderem dazu gebrauchte, unabhängigen Medien einen Knebel zu verpassen, Obdachlosigkeit unter Strafe zu stellen oder die Ehe als heterosexuelles Reservat zu definieren.

Davon konnten sich rechtsextreme Gruppen ermutigt fühlen, der Gesellschaft ihre Agenda aufzuzwingen. „Zwischen der Fidesz und der rechtsradikalen Jobbik-Partei als zweitstärkster politischer Kraft wurden die Übergänge immer fließender. Das trieb den Mainstream weiter nach rechts“, meint der Soziologe János Ladányi, der an der Budapester Corvinus-Universität lehrt. Ein Zeichen dafür sei Orbáns Option, die Rückkehr zur Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen. Oder sein Plan, wegen möglicher Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder aus Nordafrika ein an Zwangsarbeit erinnerndes Programm für „kulturfremde, illegale Einwanderer“ einzuführen.

Dem Bürger und Beobachter Giuliano ist dieser Trend nicht entgangen. Im Gegenteil – er musste dies in den vergangenen Jahren hautnah erleben. Wie gewohnt nahm er auch 2014 an der schwul-lesbischen Pride Parade durch Budapest teil. Weil er von den „üblichen, zahnlosen Aufrufen zu Toleranz und Respekt genug hatte“, beschloss er, sich mit der angespannten politischen Situation kritisch und zugleich verspielt auseinanderzusetzen. Ziel seiner Parodie sollte das homophobe und antisemitische Umfeld der Jobbik-Partei sein, das sich öffentlich zur Schau stellt, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. So karikierte Giuliano vor allem den „Verein der national gesinnten Motorradfahrer“ – eine rechtsextreme Gruppe, die vor einem Jahr unter dem judenfeindlichen Motto „Gib Gas!“ durch die Straßen von Budapest ziehen wollte. Die Justiz hatte diese unglaubliche Provokation im letzten Moment gestoppt, doch wollte der jobbiknahe Verein deshalb nicht auf öffentliche Präsenz verzichten. Er verlegte sich auf irredentistische Meetings, um eine Revision der 1920 festgelegten Grenzen des Landes zu Lasten Rumäniens, Kroatiens und der Slowakei zu verlangen. Giulianos Parodie ging deshalb mit der mittlerweile allgegenwärtigen Landkarte Großungarns ins Gericht: Wie das rechtsnationale Lager unablässig intoniert, sollen großflächige Gebiete fast aller Nachbarländer wieder zu Ungarn gehören und damit die „Ungerechtigkeiten der nach dem Ersten Weltkrieg unterzeichneten Verträge überwunden werden“.

In der Tat ist diese Landkarte inzwischen immer öfter zu sehen – als Aufkleber an Autos, als Dekoration in Geschäftsauslagen oder als Logo eben der „national gesinnten Motorradfahrer“. Dementsprechend zeigten sich die Rechtsextremen über Giulianos kleine Performance wenig amüsiert. Dies umso weniger, als sich der gebürtige Italiener gern öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt, ein makelloses Ungarisch spricht und damit nicht als ahnungsloser Ausländer abgetan werden kann.

Stellenweise Striptease

Wozu hatte sich Giuliano erdreistet? Vor dem bunten Gedränge, das zuweilen vor Alternativ-Läden in Budapest herrscht, hielt er eine kurze Rede im unverkennbaren Stil nationalistischer Dumpfbacken. Anspielungen auf die pikanten Details aus dem Privatleben diverser Rechtsradikaler sorgten für Belustigung – immer wieder plagen Sexskandale die Jobbik-Führungsriege. Mal stellt sich heraus, dass ein auffällig homophober Kader ein Profil mit expliziten Bildern auf einem schwulen Kontaktportal unterhält, mal tauchen Videos auf, in denen die „national gesinnten Motorradfahrer“ Striptease-Nummern aufführen. „Das mit der traditionellen Moral ist halt nicht so einfach“, mokierte sich Giuliano. „Überall Versuchungen und Pannen.“

Kurz nach jenem Auftritt gab es die ersten Drohungen und Beleidigungen. „Schwuchtel, wir werden uns um dich kümmern“, so der Tenor bei anonymen Telefonanrufen und Mailbotschaften. Sándor Jeszenszky, der Vorsitzende der „national gesinnten Motorradfahrer“, zeigte Giuliano wegen Verleumdung und des „respektlosen Umgangs mit nationalen Symbolen“ an. „Arbeitet die italienische Schwuchtel hier?“, fragten zwei Männer in Anzügen in Giulianos Büro nach. Einer der unangekündigten Besucher war ein früherer rechtsradikaler Abgeordneter. „Wenige Tage später standen zwei Typen vor meiner Haustür“, erinnert sich Giuliano. „Zum Glück habe ich die Gefahr rechtzeitig erkannt und konnte schnell verschwinden. Eine Woche lang musste ich danach bei Freunden übernachten.“

Als seine persönlichen Daten auf mehreren Neonazi-Portalen veröffentlicht wurden und in Internet-Foren von seiner Kreuzigung oder Kastration die Rede war, wurde dem Aktivisten klar, dass sein Leben tatsächlich in Gefahr ist. Seitdem musste Giuliano fünfmal umziehen. Gleichzeitig wandte er sich an die TASZ, eine renommierte ungarische Menschenrechtsorganisation, die ihm Rechtsschutz anbot. Seine Klagen wegen der sich häufenden Drohungen und der Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte brachten bisher allerdings nichts. Zweimal hat die ungarische Polizei in diesem Jahr versucht, die Akte „wegen mangelnder Beweise“ zu schließen, obwohl die Hassbotschaften an Giuliano bereits Dutzende Seiten füllen.

Rechtsanwalt Szabolcs Miklós Sánta gibt sich trotzdem zuversichtlich. Vor kurzem sei eine Rechtsradikale, die 2013 auf der Pride Parade einen der Teilnehmer körperlich angegriffen habe, zu drei Jahren Haft verurteilt worden. „Es war eine Premiere in der Geschichte der ungarischen Justiz.“ Dennoch sei klar, dass die Behörden nur dann überhaupt etwas unternehmen würden, wenn es international Druck gebe und der spürbar sei.

Am 10. Juni stand der erste Termin im Verleumdungsverfahren gegen Giuliano an, bei dem die Rechtsextremisten ihre Klage zurückzogen, nachdem sich der Beklagte verpflichtet hatte, deren Logo nicht mehr zu parodieren. Giuliano ließ danach keinen Zweifel: „Freiheit muss gegen Rechtsextremismus verteidigt werden oder sie geht verloren – wie ein buntes, offenes Budapest.“ Wer so denkt und das zum Ausdruck bringt, lebt im heutigen Ungarn zuweilen gefährlich.

Silviu Mihai ist Ungarn- und Rumänien-Korrespondent und schrieb zuletzt über den Fidesz-Wahlsieg 2014

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