Ich tricks dich aus, du System

Reibung Der kybernetische Kapitalismus erhöht den allgegenwärtigen Terror der Selbstoptimierung. Widerstand ist möglich
Ausgabe 17/2018
So schön hell hier: Marx gab uns Werkzeug, um hinter die Fassade der Glitzerwelt zu schauen
So schön hell hier: Marx gab uns Werkzeug, um hinter die Fassade der Glitzerwelt zu schauen

Foto: Charly Triballeau/AFP/Getty Images

Karl Marx war wohl der arbeitsamste Arbeitslose der Geschichte. Dass der Mann nicht viele seiner 65 Lebensjahre mit Lohnarbeit verschwendet haben kann, wird schnell klar, wenn man vor dem Ergebnis seiner wirklichen Arbeit in Form von 46 blauen Büchern steht. Tatsächlich hat Marx seinen Lebensunterhalt bekanntlich mit Schnorren bestritten. „Ich habe einen sicheren Plan entworfen, Deinem Alten Geld auszupressen“, schreibt er 1848 an seinen Freund und Mäzen Friedrich Engels. Gut so, können wir heute dazu sagen, sonst wäre es bedeutend schwieriger, die ökonomischen Vorgänge zu verstehen, mit denen wir es in unserem digitalen Zeitalter zu tun haben. Das soll nicht heißen, dass es seit 200 Jahren nichts Neues unter der Sonne des Kapitalismus gäbe. Aber Marx hat uns ein paar nützliche Werkzeuge hinterlassen, um hinter die Fassade der digitalen Glitzerwelt zu schauen.

Als Aufklärer sah sich Marx der Kritik an Gespenstergeschichten aller Art verpflichtet. Dazu zählte er nicht nur die Religion, sondern vor allem den von ihm so bezeichneten „Warenfetisch“. Der Begriff des Fetisches bezeichnet ursprünglich – in den Naturreligionen – den Glauben an die Beseelung unbeseelter Gegenstände. In den modernen Gesellschaften, so Marx, glauben wir, es läge in der Natur der Dinge, dass von der Karotte bis zum Lamborghini jedes Ding einen Geldwert hat. Ein eigentlich menschengemachtes Verhältnis tritt uns entgegen als eine Art autonomes Subjekt, das wie Frankenstein außer Kontrolle geraten ist.

Digitalisierung als Fetisch

Den Status eines solchen Subjekts hat heute nicht nur das Warenverhältnis, sondern zunehmend auch die Informationstechnologie. Wir glauben nicht nur, dass unsere Computer „intelligent“ seien, wir glauben, sie seien Revolutionäre. „Die Digitalisierung macht die vierte industrielle Revolution“, sagt die „Plattform Industrie 4.0“ und hofft auf eine Produktivitätssteigerung um 30 Prozent. Mit Marx können wir fragen, woher die Digitalisierung ihren revolutionären Willen hat. Die Antwort lautet dann ebenso wie beim Warenfetisch: vom Menschen, der sie gemacht hat.

Dem Technikfetisch liegt eine falsche Vorstellung des Verhältnisses von Technik und Gesellschaft zugrunde. Erstere wird zu einem der Gesellschaft gegenüber autonomen Subjekt stilisiert. Hier soll nun keineswegs in Abrede gestellt werden, dass die Digitalisierung gegenwärtig zu drastischen gesellschaftlichen Veränderungen führt. Im Gegenteil: Gerade weil sie unsere Zeit so stark prägt, ist es von zentraler Bedeutung, sie nicht als Naturgewalt, sondern als politischen Gestaltungsprozess zu verstehen. Es handelt sich beim gegenwärtigen Digitalisierungsschub nämlich keineswegs um eine aus dem Nichts erscheinende „vierte industrielle Revolution“, wie uns die Politiker und Wirtschaftsvertreter der „Plattform Industrie 4.0“ weismachen wollen. Stattdessen liegen ihre Wurzeln in einer mittlerweile über 70 Jahre alten Theorie: in der Kybernetik, die bereits während des Zweiten Weltkrieges von Norbert Wiener als „Wissenschaft von Kommunikation und Kontrolle“ begründet wurde.

Ziel war es, auf Grundlage massiver Datenerhebung selbstregulierende Systeme zu schaffen – von einer sich selbst ausrichtenden Flugabwehrkanone bis zur vollautomatischen Fabrik. Im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologien wurde die Kybernetik zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Organisation von Produktion und Kontrolle. Deshalb sollten wir statt des nur auf Technik verweisenden Begriffs des „digitalen Kapitalismus“ lieber den des kybernetischen Kapitalismus verwenden.

Auf der ideologischen Ebene verweist dieser Begriff auf eine Verschmelzung von Kybernetik und Neoliberalismus zur zentralen Ideologie des Informationszeitalters. So prophezeite Bill Gates, dass im Zuge der allgemeinen Verfügbarkeit von Internetzugängen endlich Adam Smiths These der vollständig informierten Marktteilnehmer Realität werden würde. Dadurch entstehe ein weltweites, auf der Basis von Preisinformationen selbstreguliertes Marktsystem, das er als „reibungslosen Kapitalismus“ bezeichnet. Mit der Entwicklung der Big-Data-Analyseverfahren verschärft sich diese Ideologie zu einem Glauben an algorithmenbasierte Selbstregulierung, die imstande ist, Entscheidungen zu fällen, die sich dem menschlichen Verständnis entziehen, weil sie sich auf eine riesige Datenbasis stützen.

„Also, ich tracke ja alles“, erklärt mir der Manager eines mittelständischen Industriebetriebs, der sich als Teil der viel gelobten „Industrie 4.0“ versteht. „Wann fährt der Arbeiter den Tisch hoch, wie hält er den Lötkolben, alles.“ Die Arbeiter bräuchten aber keine Angst zu haben, denn sein Ziel sei nicht die Überwachung, schon allein, weil kein Mensch mehr imstande sei, die riesigen Datenberge auszuwerten, die im Zeitalter des allgegenwärtigen Trackings anfallen.

„Gib die Daten nicht mir als Vorgesetztem, gib sie dem Arbeiter selbst. Dann kann er schauen, wo bin ich langsamer als der andere, dann kann er sich selber tunen.“ Das ist nichts anderes als die kybernetische Idee einer feedbackbasierten Selbstorganisation und Selbstoptimierung der Produktion in Echtzeit. Die Daten, so erklärt der Manager, können dann zusätzlich zum materiellen Produkt in aggregierter Form als Produktionsoptimierungsmodelle verkauft werden. Die Betreiberfirma der betriebseigenen Mensa habe schon Interesse an den Daten über die Essgewohnheiten seiner Angestellten angemeldet.

Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet das neue Produktionsregime vor allem Pflicht zur permanenten Selbstoptimierung. „Du hast das Gefühl, du wirst permanent überwacht“, erklärt mir einer von ihnen. „Weil die Konkurrenz aufs Maximum gedrückt wird, entsteht dabei einfach eine unglaubliche Belastung für den Kopf. Alle müssen rennen und der Beste sein.“

Von einem Post-Kapitalismus ist also in der „Industrie 4.0“ erst mal nichts zu sehen. Höhere Profite werden noch immer auf Kosten der Arbeitenden realisiert. Dass diese die Rhetorik von der digitalen Glitzerwelt oft durchschauen und Widerstand leisten, fällt in der Berichterstattung meistens unter den Tisch. „Ich tricks dich aus, du System, denkt sich da der ein oder andere schlaue Mitarbeiter“, erzählt mir ein Betriebsrat. „Dann mach ich eben einen Gang weniger. Und dann versuchen auch die Kollegen einen Gang weniger zu machen. Das ist möglich. Widerstand aufzubauen und sich zu schützen.“ Klassenkämpfe scheinen sich also auch im kybernetischen Kapitalismus nicht erledigt zu haben.

Simon Schaupp ist Soziologe an der Universität Basel und Autor beziehungsweise Herausgeber zweier Bücher über den kybernetischen Kapitalismus

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