Was für Verheißungen. !Versprechungen. Mein Jahr 2000. Alles was kommen wird. Die unerschütterliche Schäbigkeit des Seins... Schamott Schrott. Versprechen ein Versprechen. Und Zukunft wächst wie Unkraut zwischen toten Gleisen. Das Jahr 2000. !A die-Zukunft...kommt. Da ist sie schon. Und bringt mit schmierigen Kinderpfoten. Fundmunition aus allen letzten Kriegen. Faustkeile. Tonscherben Knochensplitter. Fliegerbomben Landminen Panzerfäuste. Die heiße Luft von allem. Schund der nicht verschwinden kann. Und nicht verwesen. Die ganzen Müll Von der-Zukunft wieder hochgewürgt. Nichts. Das mit Anstand verwesen könnte."
Diese Passage aus dem Mund eines der Protagonisten des neuen Romans von Reinhard Jirgl, des zum Serienmörder gewordenen Eheman
nen Ehemanns der Hauptfigur, ist so radikal, wie sie realitätshaltig ist angesichts des Zivilisationszustandes der Menschheit am Beginn des neuen Jahrtausends. Sie enthält in nuce wohl auch die Schreibmotivation des Autors, der den Sinn des Begriffs Geschichte mit Heiner Müller als Beschreibung der Struktur und der Zerstörung menschlicher Beziehungen begreift.Jirgl interessieren "Fortgang und Zerbrochenheit von Biografien", und so kann man - je nach Interessenlage und Lesebedürfnis - den Roman entweder (und zugleich) als Familiendrama, Liebesgeschichte, psycho-analytisches Lehrstück über die Bindungslosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit des "modernen" Menschen, oder als neuartiges, aufschlussreich vergleichendes und kontrastierendes Städtebuch über Berlin und New York lesen. Dem permanenten Zweifel des Autors an der Lernfähigkeit der Menschheit zum Besseren hin entspricht die gnadenlose Sezierung seiner Figuren, die wir in existentiellen Krisen und wichtigen Entscheidungssituationen erleben, deren Vorgeschichten er in ihrer Zerreißprobe zwischen sozialer und Ich-Existenz lokalisiert.In unmittelbarer Jetztzeit, Berlin, Dresden und New York spielend, werden in einer Art konzentrischem Erzählverfahren mit vielstimmigen Perspektiven die Geschichten von Schwester und Bruder, von Ehemann und Liebhaber, von Vater und Mutter und deren Freundin, vom alternden Schriftsteller, dessen Sohn und Schwiegertochter offengelegt. In "dichten Beschreibungen" sehen wir sie alle trotz ihrer Verletzungen und Verstörungen befangen "in jenem unheilvollen Drang Verlangen ... nach Zusammenfügung Fleisch-mit-Fleisch", doch immer wieder auf der Suche nach dem "großen rettenden Ausweg aus dem Dilemma zwischen den Menschen". Nicht Endstation Selbst-Sucht, sondern eine Hemingwaysche fragile Endstation Sehnsucht schält sich letztlich doch für einige von ihnen heraus: bestimmt von Liebe und Glücksverlangen, einfach Mit-Menschlichkeit.Sie sind (Ostwestfleisch) - unterschiedlich sozialisiert und aus verschiedenen Generationen - unterwegs zu sich selbst und zueinander, und wie in den schönen alten Romanen treffen sich am Ende sogar ihre Wege. Der Text ist eigenwillig strukturiert: in zwei umfänglichen Teilen (Ostwestfleisch, Grand Central Terminal), verläuft der Haupterzählstrang um Schwester und Bruder sowie die Schriftsteller-Familie. Dazwischen sind als eine Art Zwischenstück zwei kürzere Teile montiert, (Menschenschwemme...Vom Leben in der Tiefe, Die Entdeckung des hässlichsten Menschen) die aus der Perspektive des Ehemanns der Schwester (dieses Schauschpielers=dieses Verrückten, des Kerls in Violett, des Sängers Glücklos) seine nihilistischen Mordmotive sowie apokalyptischen Weltsichten präsentieren. Die Figur ist mythologisch mit Orfeus assoziiert, als innerer Monolog eines irren Mörders geformt, hier variiert das zentrale Thema der Mauer, der Grenzen, der Aus- und Aufbrüche, die Fatalität des "Geboren zu fressen zu saufen zu streiten zu ficken zu sterben". Verurteilt werden "die Kinder der kranken Sonne Mitternacht", das "Weltpachullkentum", die Bravsager, "großkotzige Stehkragenproleten mit Schließmuskelkrampf" ebenso wie die "Ackerdemicker Intellelen in der Juppiezeit". Im Märchenmotiv vom Schwesterlein und Brüderlein klingt Mythisches an, ihre Geschichten und Perspektiven dominieren.Furios wird eingangs die missglückte Einreise der Schwester in New York geschildert, die atlantische Mauer ist hier vergegenständlicht in Kennedy-Airports Polizei-Barrieren für Besucher und Einwanderer. Das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" erweist sich für die hier schwarz arbeiten wollende Schwester als streng bewacht, bürokratisch und sicherheitspolitisch geschützt durch machistische weiße und schwarze Bullen. Indem Jirgl die "Mauer" zwischen die alte-erste und die neue-zweite Welt (die dritte fehlt auf merkwürdige Weise) verlegt, gelingt es ihm, den deutschen Mauerfall historisch weit hinter sich zu lassen, die Problematik der Grenzen in den Zeiten der Globalisierung sowohl konkret als auch übertragen als Grenzen zwischen den Menschen sinnfällig und plastisch einzufangen. Äußere Entgrenzung bringt neue Grenzen hervor, die andere Überwindungsstrategien erfordern.Ortswechsel allein kann auf dem Lebens-Weg nur wenig bewirken, da die ungeklärten Vergangenheiten im Schlepptau bleiben. Diese Erfahrung macht etwa die lesbische Schwesterfrau aus Bochum, die als Lebensgefährtin der Mutter in den 80er Jahren in die DDR übersiedelt und dabei die brutalen Einwanderungs-Methoden der DeDeR erlebt. Das mit ihrer grauenvollen Familiengeschichte (die seit ihrem fünftem Lebensjahr jahrelang von der neurotischen Mutter geduldete Vergewaltigung der Tochter) verbundene Porträt der BRD - "des Schweine-Systems" - erinnert in seiner eindringlichen Radikalität an Wolfgang Koeppens Treibhaus-Trilogie. Der "doitsche Staat" erscheint dieser zerstörten Frau als Hassobjekt Nummer eins, seitdem er 1977 - "Lubjanka heißt manchmal auch Stammheim" - wieder "Menschen abgeholt hat". Auch die Sicht des an seiner Kreativität stagnierenden Schriftstellers - auch er erhofft sich von seiner Übersiedelung in die USA Lebensänderung - auf das Doitsche (Scharen grämlich furchtsamer Erfüllungsgehilfen) ist illusionslos: "in Deutschland - ob in Zeiten chauvinistischer Raserei, ob als geteiltes Land od in diesen-Jahren-danach - :immer war ist letzlich das-Scheitern im Ersticken die 1zig verbindende Erfahrung unter diesen Menschen Dort...".Die DeDeR ist verschwunden und erscheint als "eisige Theatergroteke", in der "Herzamputierte" eine Hauptrolle spielten. Auch hier Gemeinsames mit der alten BRD. Die atlantische Mauer zu überwinden, hat sich die Schwester - beim zweiten Mal erfolgreich - aufgemacht, nach dem sie für sich in den USA einen Ort erkannt hat, der ihr nach verschiedenen biografischen Brüchen beruflich und privat einen neuen Aufbruch als Galeristin ermöglichen soll. "Im Rücken die Ruinen von Europa" (Heiner Müller) erscheint ihr jedoch "Gottes eigenes Land" durchaus in kritischem Licht: "the american way of lie". Auch hier ist der Mensch des Menschen Feind! "Was für eine Melange aus Familiensinn Wohlanständigkeit Korruption Geschäftssinn Geldgier wieder Familiensinn." Aber es gibt auch den Realismus der Amerikaner, das Polysoziale in Manhattan sowie vor allem die Faszination der Weltstadt New York, deren Einmaligkeit in der suggestiven Beschreibung des Grand Central Terminal zum Ausdruck kommt.An Dos Passos gemahnen hier nicht nur die im Romantext von Jirgl in Fettdruck eingefügten Zeitungszeilen, deren fragmentarische Gestalt das Austauschbare andeutet. In der Figur des Schriftsteller-Sohnes und seinem Ehe-Scheitern, das ihn den Mord an seiner Frau planen lässt, wird vorgeführt, dass auch in diesem Land und dieser Stadt ("In New York bist du allein : all-1...von Anfang an=für-Immer." die immer gleichen zwischenmenschlichen Probleme existieren. Und so wollen wir am Ende dieses hoch-artifiziellen lautmalerischen Romans für die Schwester nur das Beste für ihre Ausstellungseröffnung hoffen. Was bleibt außerdem, ist die schöne Schilderung eines altgewordenen Ehepaars, die eine Gemeinsamkeit über das ganze Leben geschafft haben, eine Art Philemon und Baucis, zwischen denen es "niemals Verrat", dafür aber umso mehr Wärme und Milde gegeben hatte. Und so bleibt uns das Wissen, "dass Menschen immer die letzten Haltegriffe sind in der Brandung alles Unmenschlichen, das Menschen je verwirklicht haben."Reinhard Jirgl: Die atlantische Mauer. Roman. Hanser-Verlag, München 2000, 449 S., 49,80 DM
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