Ein Wunder wird das zweite Jahrtausend beschließen: Glasfenster, vor denen Kugeln weichen.« Dieser Schluss-Satz aus dem 1948 geschriebenen Essay »Glauben an Irdisches«, der sich auf den Wiedereinbau der während des Krieges ausgelagerten berühmten Glasfenster in der Pariser Sainte-Chapelle bezieht, (»Das Märchen der westeuropäischen Christenheit« darstellend), enthält das zentrale lebenslange Schreibmotiv von Anna Seghers, dem die Weltliteratur eine Reihe leuchtender und bleibender Texte verdankt. Kunst und Literatur in ihrer menschheitsbildenden Bedeutung zu begreifen, auf ihre aufklärerische, lebensbejahende und unterhaltende Rolle zu setzen, war Anna Seghers' Art der Interpretation von der gesellschaftlichen Funktion der Literat
Märchen aus blauem und rotem Glas
100. GEBURTSTAG VON ANNA SEGHERS Die Dichterin als Repräsentantin der Einheit von Geist und Macht
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ratur, von anderen in den zwanziger und dreißiger Jahren auf die Verkürzung von »Kunst als Waffe« zurückgestutzt. Die von ihr selbst benannten zwei Linien ihres Schreibens, »über das zu schreiben, was mich heute bewegt, oder den Farbenreichtum einer Phantasieerfindung wiederzugeben«(1953), benennen einen literarischen Grundkonflikt, den man einer Wünschelrute gleich an das Gesamtwerk anlegen kann.Früh, noch vor politischer Standpunktbildung, begriff sie anlässlich der Nachrichten von der Oktoberrevolution, dass es »ein Oben und Unten, ein Hoch und ein Niedrig gibt« und sagt der damit einhergehenden Un-gerechtigkeit den Kampf an. Dabei setzt sie nicht auf vordergründige Ideologie, Agitation und Propaganda, sondern entwirft an Lebensläufen und Charakteren ein düsteres Bild proletarischer und plebejischer Lebenslagen, die nach Veränderung schreien. »Denn wir schreiben ja nicht, um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern«(1932). Ihr Interesse gilt dem ganz »gewöhnlichen Leben« der »kleinen Leute«, deren Ratlosigkeit in einem von Ausbeutung, Mühsal und Freudlosigkeit depravierten Alltag sie aufrüttelnd gestaltet. Sie zeigt das Scheitern der Wenigen, die dagegen aufbegehren, Rebellen und Aufständische wie Hull und Andreas im Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928). Mit der Rettung(1937) avanciert sie zur unbestechlichen »Chronistin der Arbeitslosen« (Walter Benjamin 1938), in deren Notgemeinschaft zu wenige die Wahrheit gesellschaftlicher Veränderungen in den abgestumpften und müden Köpfen haben. Die mit »Bewusstseinsbildung des Volkes« definierte Funktion der Literatur wird von Anna Seghers umso überzeugender wahrgenommen, wenn sie an den historischen Kräfteverhältnissen keinerlei voluntaristische Verkürzungen zulässt und den intellektuellen und emotionalen Weg ihrer Figuren in quälendem, stockendem und oft auch stagnierendem Verlauf vorführt. Inneres und Äußeres wirken dabei verklammernd auf die Menschen ein, als Gegenpol des »gewöhnlichen Lebens« erscheint stets das nicht-gewöhnliche, das abenteuerliche, »gefährliche Leben«, das sowohl durch Krieg und Gewalt verlocken und verführen wie auch Aufstand, Revolution und Widerstand bedeuten kann.Seit 1933, als Kommunistin und Jüdin ins Exil vertrieben, bewegt sie die Frage: Wie konnte es geschehen? und sie entwirft mit dem Siebten Kreuz (amerik. und span. Ausg. 1942, dt. Ausg. 1948) ein sozial-psychologisches Panorama deutscher Befindlichkeit, das vereinfachende Erklärungsmuster sozial, politisch-strukturell, ökonomisch und mental fundiert. In diesem Roman, der ihr Weltgeltung einbringt, finden sich alle Qualitäten ihres Erzählens vereint: eine spannende Fabel, differenzierte Charaktere, die Einheit von Innerem und Äußerem, mythische und symbolische Elemente, der realistische Blick auf die von Terror eingeschüchterte Bevölkerung und auf die Wenigen, die bereit zur Hilfe für die entflohenen KZ-Häftlinge sind. Auch hier ist es nicht Wallau, der erfahrene Arbeiterführer und KPD-Funktionär, der im Zentrum der Handlung steht, sondern Georg Heisler, der durchaus nicht makellose Kommunist, der als einziger der sieben Entflohenen durchkommt, auf einem Schleppkahn aus Mainz: »bar aller Wirklichkeit vor dem unermesslich trüben Himmel«.Anna Seghers' dramatischer Flucht aus dem besetzten Frankreich verdanken wir mit Transit (amerik. Ausg. 1944, dt. Ausg. 1948) einen weiteren klassischen Text: das kongeniale Buch über die existenzialistische verallgemeinerbare Fluchtsituation im 20. Jahrhundert, mit Liebes- und Verwechselungsgeschichten, mit kafkaesken Jagden nach Stempeln und Visen, nach Schiffspassagen und Billets, mit der Kraft des Erzählens als Überlebenshilfe: »Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird.« Dem Schriftsteller Weidel, der sich angesichts der drohenden Nazibesetzung von Paris umbrachte, sagt die Autorin ein Schreibprogramm nach, das wohl dem ihren sehr nah war.«Er hat um Besseres gekämpft...Um jeden Satz, um jedes Wort seiner Muttersprache, damit seine kleinen, manchmal ein wenig verrückten Geschichten so fein wurden und so einfach, dass jeder sich an ihnen freuen konnte, ein Kind und ein ausgewachsener Mann. Heißt das nicht auch, etwas für sein Volk tun? Auch wenn er zeitweilig, von den Seinen getrennt, in diesem Kampf unterliegt, seine Schuld ist das nicht. Er zieht sich zurück mit seinen Geschichten, die warten können wie er, zehn Jahre, hundert Jahre.«Geschichten, Chroniken, Märchen und Legenden, die kleine Prosa wird ihr eigentliches Metier, die Idee zu »einer Art 1001 Nacht aus unserer Zeit, eine große und ganz bunte Sammlung von zusammenhängenden Erzählungen aus allen Schichten des Lebens und über und für alle Art Menschen« (1938) wird im Bienenstock (2 Bd. 1953) realisiert. Im Vorwort wird das »Haus Bienenstock« als real-imaginärer Ort des Geschichtenerzählens vorgestellt: als Treffpunkt zwischen Norden und Süden, Osten und Westen, an dem Märchen und das »was wirklich passiert ist« zu hören sind. Ein Ort, an dem auch Walter Benjamins Bucklicht Männlein gut vorstellbar ist.Über ihre Suche nach dem, was während des Dritten Reiches in Deutschland »wirklich passiert war«, gibt der - angesichts der raren autobiographischen Einblicke, die Anna Seghers zeitlebens gestattete - soeben erschienene geradezu als sensationell zu betrachtende Briefwechsel 1947 beklemmende Auskunft. Der sich hier spiegelnde Blick auf die »behexte Stadt« und ihre »stumpfen Menschen« (»Die Stadt ist außen und innen ganz und gar kaputt, das heißt, die Menschen sind es auch.«) macht in »alldem Wirrwarr« die Hemmnisse und Mühen eines neuen Anfangs unübersehbar. Hier im Volk »der kalten Herzen« ist sie einsam und traurig, sucht sich ein Bild von der »zerstörten Berliner Bevölkerung« zu machen. Dabei trifft sie kaum auf Schuldige, auf Nazis, dafür umso mehr auf die neuen Anpasser wie z. B. jenen Bäcker, der sein NSDAP-Schild gegen ein »Es lebe der Bolschewismus«-Transparent tauschte. Sie sieht die Masse, »deren furchtbare Feigheit die Morde hat geschehen lassen«. In der Minderheit sind die »alten Freunde«, die den KZ und allen Verfolgungen entkommen sind, in »ihrer unversehrten Kraft«, in den »Augen das alte Licht«. Aber es fehlen viele »teure Tote«, der ermordete Studienfreund Philipp Schaeffer wie die in einem KZ zu Tode gebrachte Mutter. Schmerzlich wird ihr die Marginalität des deutschen Widerstands bewusst: »Es kommt mir ebenso falsch vor, daran zu zweifeln, dass es Widerstand in Deutschland gegeben hat, wie es falsch wäre, daran zu zweifeln, dass dieser Widerstand grausam zersplittert, grausam isoliert war.«Es steht die Aufgabe, für den Aufbau eines neuen, demokratischen und sozialistischen Deutschland das ganze, verblendete Volk zu gewinnen. Ihr widmet sie sich aufklärend und erzählend. Sie wird zur Repräsentantin der in der DDR beschworenen Einheit von Geist und Macht. Mit den »Toten bleiben jung« (1949) entwirft sie ein deutsches Geschichtsbuch, das von den gefallenen Helden der Novemberrevolution zu den im Zweiten Weltkrieg Umgekommenen einen weiten Bogen spannt, in dessen Mitte sich die proletarische und die bürgerliche Welt gegenüberstehen und die Hoffnung auf die Zukunft aus dem Mythos der jung gebliebenen Toten geschöpft wird. Ihre zwei großen Romane Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968), als sozialistische Gegenwartsbücher mehr gerühmt denn wirklich gelesen, sind ihr Versuch, das gesellschaftlich Neue in den Schicksalen von Arbeitern, Angestellten und Ingenieuren, Männern und Frauen, Kindern und Jugendlichen, die alle mit einem großen Industriewerk verbunden sind, als mühselige und widerspruchsvolle Erfolgsgeschichte zu erzählen. Ein großes episches Unterfangen, dessen gelungene Seiten in der Kontinuität bewährter Erzählmotive auszumachen sind: lebenslange, aber komplizierte Männerfreundschaften, spröde Liebesgeschichten, mädchenhafte Lichtgestalten, aber auch vitale, einprägsame Arbeiterfrauen. Seghers' Arbeiter-Bilder gewinnen im Kontext des 17. Juni 1953, der auch in seinen DDR-eigenen Ursachen und Widersprüchen geschildert wird, eine große mentale Spannbreite. Eine genaue Lektüre kann die in beiden Romanen verborgene Kritik an der Partei entdecken, die der Autorin Zweifel an dem Projekt Real-Sozialismus spiegelt, z. B. wenn die Figur Katharina, die zögert, ihrem Mann aus Westdeutschland in die DDR zu folgen, angesichts des in den Selbstmord getriebenen Ingenieurs Rentmaier feststellt: »Weißt Du warum? Weil ihr immer nur auf alle zusammen seht, ob es Hunderte sind, ob es Tausende sind, nur auf den einzelnen nicht. Deshalb habt ihr ihm nichts angemerkt.« Oder wenn im Vertrauen die Frage unbeantwortet bleibt: »Wieso kam es, dass die Strengen, Unversöhnlichen viel Macht besaßen?« Plakative Dialoge und manches propagandistisch Aufgesetzte beeinträchtigen beide Romane, in denen stalinistische Atmosphäre der fünfziger Jahre eindringlich dicht wirkt und zugleich das verordnete Schweigen über die Perversionen und Verbrechen des Stalinismus in der UdSSR als angemessen erscheint. Wäre ihre im Nachlass aufgefundene Erzählung Der gerechte Richter (veröffentlicht 1990) in dem kurzen Tauwetter 1957 erschienen, hätte dies deutliche Signalwirkung im Umgang mit diesem Tabuthema haben können, für sie bedeutete dies die Annäherung an das »Unerklärbare«, an die widersinnigen Opfer, die der Gerechtigkeit und der Idee des Sozialismus auf das historische Schuldkonto kamen. Über den unschuldig verurteilten Spanienkämpfer und den unschuldig verurteilten »gerechten Richter« heißt es beschwörend: »Sie waren festgeblieben für sich und für alle, wenn sie dafür auch nicht gefeiert wurden, es blieb ein Sieg, ein ungefeierter...« Das Festhalten an der sozialistischen Entscheidung ließ Anna Seghers alle Widersprüche und Fehlentwicklungen des real-sozialistischen Experiments ertragen. Wir wissen nicht, mit wie vielen Zweifeln und Gefährdungen. Alternativen waren für sie, wie für andere Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die sich der Idee des Sozialismus verschrieben hatten, nicht in Sicht. Und so lebt der »Glaube an Irdisches« weiter in ihren schönsten Erzählungen wie dem Aufstand der toten Mädchen oder der Post ins Gelobte Land, verkörpert sich in ihren geheimnisvollen Frauenfiguren, die immer wieder Marie heißen, oder in den zahlreichen Kinds-Gestalten, auf die sie ihre ganze Hoffnung setzt, geistert der Räuber Woynok ebenso wie Artemis durch die Wälder, spuken die Toten auf der Insel Djal.Die »winzigen hellen Pünktchen« in den Augen ihrer Figuren symbolisieren dabei ihre humanistische Botschaft.Siehe auch und
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