Erinnerung an Zukunft

Nachruf I Zum Tod von Ulrich Müther (1934-2007)

Ulrich Müther war der Mann fürs Besondere im Rechteckland. Er konnte aus dem überdrüssigen Beton frei schwingend schwebend schöne Häuser machen. Schwierige Geometrien, hyperbolisch paraboloid gespannt und gezogen: Segel, Seestern, Ahornblatt. Lange vor Einführung des Computers hat Müther endlose Datensätze mit Bleistift und Papier berechnet, das machte seine späten Verehrer geradezu fassungslos. Obwohl man heute mathematisch alles sehr viel schneller könnte, ist Schalenbau eine nahezu ausgestorbene Disziplin. Die Lohnstückkosten für die Qualitätsarbeit der Betonspritzer sind zu hoch, als dass sich ein Bauherr dieses architektonischen Mittels bedienen könnte.

Als Müther 1960 an der TU Dresden mit Schalen zu experimentieren begann, war das ein Beitrag zur Rationalisierung. Ersparnis stand im Vordergrund und der Wunsch, gesellschaftlich bedeutsamen Gebäuden mit neuen Mitteln Distinktion zu verleihen. Bitte, bitte keine Säulen, schrieben die Bürger anlässlich von Wettbewerben in die Besucherbücher. Wir wollen modern leben! Ein Kommilitone von Müther entwickelte in seiner Diplomarbeit die Theorie, dass gesellschaftliche Bedeutsamkeit mit der geometrischen Komplexität korreliere, echte Monumentalität also in Intelligenz begründet sei. Die freien Formen waren international im Umlauf. Sie kamen von den Möbeln der skandinavischen Organiker und aus der hispanischen Bautradition. Félix Candela und Eliel Saarinen hießen die großen Meister. In die DDR war die Lust auf Schalenbau mit dem spanischen Emigranten Manuel Sánchez Arcas eingewandert und mit der sowjetischen Tauwetter-Architektur, den noblen rumänischen Schwarzmeerprojekten oder slowakischen Partisanengedenkstätten. Sputnik und Salsa prägten das Lebensgefühl.

Der Landbaumeister Müther, ein Ingenieur, hat ausführen können, wovon die meisten Architekten nur träumten. Das machte den Unterschied und seine Größe aus. Er hat aus der Papierarchitektur der großen internationalen Wettbewerbe experimentell Bushaltestellen und Strandwärterhäuschen gemacht. Dies wiederum war typisch DDR: das Basteln und Erfinden im Hinterhof. Die Müther-Schalen verdanken sich vorpommerscher Hartnäckigkeit ebenso wie den Assoziationen eines Seglers. Diese Trance auf offener See: Grenzen überwinden, fliegen, aber hübsch mit den Beinen am Boden dabei. Müther war immer darauf angewiesen, wer bei den Projekten sein Architekt wurde. Kaum eine Form hat er selbst kreiert. Er las die Ideen aus unrealisiert gebliebenen, allzu kühnen Projekten in anderen Ostblockstaaten auf. Erst war die Form der Schale da, dann musste sie Haus werden.

Nachdem Herbert Warnke auf der Ostseemesse in Rostock-Schutow Müthers kunstvolle Fertigkeiten entdeckt hatte, wurde der Ingenieur aus Binz prominent. Begeisterte Verkäuferinnen steckten ihm Bananen zu. Jede Stadt, jeder ehrgeizige Bezirksparteivorsitzende hatte einen Auftrag für ihn. Das Besondere. Das Andere. Eine freie Form! Wunderwerke, ausgerechnet in Beton. Seine Schalen waren ein Exportschlager und wurden von Carl Zeiss Jena im Komplettpaket mit Planetarien weltweit vermarktet. In einer Mischung aus Trotz und Stolz führte Müther den verstaatlichten Baubetrieb seines Vaters als Rügener Spezialbau PGH weiter. Genau so oft wie Seeleute ging die eingeschworene Crew auf große Fahrt.

Das schönste Bauwerk steht in Libyen. Die Jenaer Hausarchitektin hatte den Wettbewerb für ein Raumfahrtplanetarium mit einer etwas sehr übertrieben feinen Müther-Schale beschickt, die den Muslimen wie eine Offenbarung erschienen war. Gertrud Schille siegte und hatte das Problem, den Bau genauso fein detaillieren zu müssen. Es gelang, wie nur einmal im Leben etwas gelingt.

Niemand hat sich vorstellen können, dass den bald schon denkmalgeschützten Architekturen jemals ein Unbill von Menschenhand drohen könnte. Dass gar Baggerarme verheerend in die komplexen Geometrien greifen. Einige Schalen sind nach 1989 sang- und klanglos verschwunden, weil sie zu Gästehäusern der SED gehörten, andere verrotteten im Treuhand-Liegenschaftsbestand. Allein in Berlin gab es einen Aufruhr, als die Bundesfinanzverwaltung im Zusammenspiel mit den DDR-Exorzisten vom Planwerk Innenstadt das Ahornblatt auf der Fischerinsel demolierte. Der vor aller Augen und bei lebhaften Protesten vollzogene Abbruch hat Müther paradoxerweise in seinen letzten Lebensjahren weltbekannt gemacht. Eine viel gelesene Londoner Designzeitschrift kürte ihn zum "Architekten des Jahres", Müther bereiste die Technischen Universitäten, er bekam Aufträge für Rodelbahnen und Moscheen. Filmemacher und Reporter drängelten sich in seinen Terminkalender. Der Druck der um ihn entstandenen Öffentlichkeit hat nicht zuletzt den "Teepott" gerettet. Nun wird man künftig am Strand von Warnemünde ein gebautes Memento betrachten können. Sanft in die Dünen gebettet und wie von der Meeresbrise gebauscht hat der am 21. August verstorbene Ulrich Müther mit diesem Bau eine Erinnerung an Zukunft hinterlassen. Im Zweifel auf jeden Fall modern.


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