Es gibt ja immer wieder Menschen, die auf Einwirken Dritter hin zum ersten Mal in ihrem Leben ein Buch eines anderen Menschen lesen. Ich lese hiermit also zum ersten Mal ein Buch von Katja Lange-Müller. Es heisst Die Enten, die Frauen und die Wahrheit, und gerne würde ich sagen, dass ich es gelesen habe, wie sich das für eine anständige Kritik gehört, aber nach den ersten Seiten merkte ich, dieses Buch lässt sich nicht bloß professionell und vielleicht auch noch diagonal runternudeln, nein, dieses Buch muss man in Ruhe genießen. Denn Katja Lange-Müller ist keine modische Autorin. Sie ist auch keine stilistische Eintagsfliege, weil sie sich nicht überübermorgen bereits wieder verflüchtigt haben wird. Das hat die 1951 im damaligen O
amaligen Ost-Berlin geborene Autorin, die 1984 die DDR verließ, schon längst mit ihren letzten Büchern bewiesen. Überall kann man nachlesen, dass sie für ihre Bücher Verfrühte Tierliebe (1995) und Die letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei (2000) mit Lob und Preisen überhäuft wurde. Nun bin ich keine Berlinerin, aber Katja Lange-Müller schon, und sie steht auch nicht jung und dünn im Durchzug von Berlin Mitte, nein, sie sagt auch immer wieder, dass es die andern sind, die jünger und dünner (und dümmer, aber das sagt nicht sie, das sage ich) sind als sie, während sie mit ihren 52 Jahren als Ur-Ex-Ost-Berlinerin quasi etwas unverrückbar Ewigberlinerisches verkörpert. Etwas, das ich so ähnlich auch schon bei Gabriele Tergit oder Irmgard Keun gefunden habe. Ja, etwas, das durchaus mit einem Gespür fürs Volkstümliche und Lokalkolorierte zu tun hat, mit einem Blick auf die kleinen Leute in den Quartierkneipen und Currywurstbuden, ein bisschen Drei Damen vom Grill und Praxis Bülowbogen - all das steckt in Katja Lange-Müllers Texten drin. Gut, vielleicht möchte mich Katja Lange-Müller nach Unterschiebung dieser Ingredienzien nicht besonders gern kennen lernen, aber ich weiß es nicht besser. Ich bin nur aus der Schweiz, und die war immer schon neutrale Mitte und weder Westen noch Osten, Westen, das heißt Basel, Osten, das ist Zürich, deshalb kann ich gewissermaßen auch die weltpolitische Ost-West-Spannung, die in diesem Sammelband von Erzählungen und Kolumnen - nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Boston und Moskau - liegt, nur erahnen. Gemeinsam ist Katja Lange-Müllers Berlin, Boston und Moskau jedoch ein genauer, scharfer, manchmal komischer, manchmal vor schneidender Gnadenlosigkeit fast nicht erträglicher Blick auf das Klitzekleine dieser Welt. Schrecklich ergeht es zum Beispiel den Spatzen in Moskau. In Moskau, Fährten und Gefährten müssen die armen Tierchen ausgerechnet Lenin ähnlich sehen, weil sich Frau Lange-Müller ausgerechnet an Durs Grünbein erinnert, der einmal geschrieben habe, »das Gesicht einiger Moskauer Spatzen erinnere an das des Genossen Lenin». Viel schlimmer noch ergeht es einem zahmen Spätzchen namens Fly in Zum Kursker Bahnhof, das ein wahnsinniger Rollstuhlfahrer Lange-Müllers Begleiterin, »einer Lyrikerin, einer jungen, naturblonden Schönheit aus Hessen» andrehen will. Nach einem Zweikampf voller sprachbedingter Missverständnisse zwischen der Blonden und dem Russen heißt es da: »Ich weiß nicht, ob außer uns dreien noch jemand das kleine, trockene Knacken hörte. Der Mann zog seinem wilden Blick ab vom blonden Scheitel der Lyrikerin, die ihr Gesicht wie ein erschrockenes Kind in meine Achselhöhe drückte, und öffnete die Faust: von seinen schräg uns zugeneigten, durchgebogenen, weißen Fingern glitt der reglose Fly auf die Tischplatte». Eros und Thanatos lassen grauslich grüßen. Gerne erführe man natürlich auch etwas über das Liebesleben der Autorin, doch außer einem freundlichen Menschen, mit dem sie beim Pilzesuchen versehentlich die Pilzmesserklinge kreuzt, ist davon nichts zu erfahren, dafür lenkt sie die ganze komische Grausamkeit der Beziehungsproblematik immer wieder geschickt ab.Bei den Menschen kommt sie beispielsweise auf die rätselhafte Beziehungsdynamik siamesischer Zwillinge zu sprechen wie in »Erinnerung an ein unbeendet herumliegendes Stück», wo sich die zusammengewachsenen Zwillinge zum Schluss plötzlich äußerst passend ins wiedervereinigte Deutschland verwandeln. Am liebsten aber ist ihr eindeutig das Tierreich: In der titelgebenden Geschichte Die Enten, die Frauen und die Wahrheit taucht mitten in die Idylle eines Hamburger Alstersonntagsspaziergang ein verzweifelter Enterich mit einer toten Ente im Schnabel aus dem Wasser auf. Ein Vater mit Kind? Der Enterich quasi als Vater aus dem Erlkönig? Ein Witwer mit der toten Gattin? Nein, nein, spricht da eine versiffte männliche Randexistenz und holt mit der ganzen Lange-Müllerschen Übertragungskunst zu einer allgemeingesellschaftlichen Analyse über die Gefahr der Zunahme sexueller Gewalt bei männlichem Singleüberschuss in der Bevölkerung aus: »Der da ist der letzte von acht Erpeln, die alle diese eine Ente fickten. Sie konnte schon beim siebenten nicht mehr ... Nur weil er sie zu Ende vögeln will, holt er sie immer wieder hoch, einen andern Grund hat der nicht. Kommt bloss davon, dass es zu viele Erpel gibt.« Alles klar. Jetzt freue ich mich darauf, dieses wunderbare Buch endlich zu Ende lesen zu können. Und diese Katja Lange-Müller möchte ich wirklich zu gerne einmal kennen lernen.Katja Lange-Müller: Die Enten, die Frauen und die Wahrheit. Erzählungen und Miniaturen. Kiepenheuer, Köln 2003, 244 S., 18,90 EUR
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