Blut bekommt ihr gut

Königin des Bösen Mit "Königliche Krankheit" spannt Barbara Vine alias Ruth Rendell einen Bogen von Erbkrankheiten bei Queen Victoria bis zur Gentechnologie der Gegenwart

Im "Hammett", Berlins einziger Krimibuchhandlung, herrscht fachmännische Ratlosigkeit. Der Buchhändler kämpft gegen sich selbst. Die Frage war: Was könnte er einem Fan von Barbara Vine empfehlen, um einen repräsentativen Einblick ins Werk von Ruth Rendell zu gewinnen? Krimi-Leser wissen: die beiden Autorinnen sind ein und die selbe Person, da gibt es von Geburt, also vom 17. Februar 1930 an, Ruth Rendell, die sich 1964 mit Alles Liebe vom Tod von einer Journalistin in eine Kriminalromanautorin verwandelte. Seit 1986 schreibt sie unter dem Pseudonym Barbara Vine auch Psychothriller. Bloss: Ein Vine-Fan muss Rendell nicht mögen und umgekehrt. Der Kreuzberger Krimibuchhändler hat da sogar eine besonders ausgeklügelte Sicht der Differenzierung: Liebend gerne würde er eine Lesung mit der Autorin als Barbara Vine veranstalten, aber keineswegs mit Ruth Rendell. Obwohl es da diesen ausgezeichnete Band mit Rendell-Kurzgeschichten gebe: Der gefallene Vorhang von 1976, ein must, und selbstverständlich auch Alles Liebe vom Tod. Aber sonst würde er Vine auf jeden Fall vorziehen.

Es gibt die Faustregel, dass Rendell gleichzusetzten sei mit klassischen Detektivromanen, während Vine für das psychologisch Vertrackte stünde, für epische Geschichten, die zwar immer mit Recherchen, häufig aber ohne klares Opfer-Täter-Schema und ohne Verbrechen in der Gegenwart auskommen. Die gewissermassen das feinsinnigere und menschlich nachvollziehbarere Gruseln heraufbeschwören würden. Doch dann stürzt man sich in die Rendell-Werk-Recherche, und kommt zu gar keinem Schluss mehr: Was soll denn feinsinnig sein, wenn nicht die Dokumentation einer Schizophrenie in der Erzählung Kein Herz und keine Seele aus dem Band Der gefallene Vorhang? Und waren damals Isabelle Huppert und Sandrine Bonnaire in Claude Chabrols La céremonie (die Verfilmung von Rendells Urteil in Stein von 1977) nicht zwei Mörderinnen, die alle Zuschauerinnensympathie auf ihrer Seite hatten? Und was ist mit Almodovars Carne Trémula nach Rendells In blinder Panik?

Als Ruth Rendell hat die gute Frau 18 Inspector-Wexford-Fälle, 23 weitere Krimis und sechs Bände mit kriminalistischen Kurzgeschichten geschrieben, als Barbara Vine elf Psycho-Thriller, macht insgesamt 58 Bände. Der Diogenes Verlag hat von den deutschen Barbara-Vine-Büchern 1,5 Millionen Exemplare verkauft und auch der letzthin erschienene Band Königliches Blut (The Blood Doctor von 2002), war wieder ein klarer Bestseller, auch wenn das Buch von der Konstruktion her zu den schwieriger konsumierbaren Vines gehören dürfte. Ein Hilfsmittel, nämlich einen auffaltbaren Stammbaum des Ich-Erzählers, genauer des Ur-Enkels des Leibarztes der Queen Victoria, liefert der Verlag gleich mit, und als Nicht-Brite sollte man sich besser auch noch ein zweites aus der Bibliothek oder aus dem Internet beschaffen: einen möglichst bebilderten Führer durch das britische Oberhaus, das House of Lords (am einfachsten unter www.publications. parliament.uk). Ruth Rendell trägt seit 1997 den Titel Baroness of Babergh und ist seit 1998 selbst im House of Lords engagiert: Tony Blair war es, der damals darauf bestand, die politische und soziale Kompetenz der bekennenden Feministin und Kämpferin für die Rechte der Homosexuellen auch für das britische Parlament fruchtbar zu machen.

In Königliche Krankheit nun plaudert die Autorin gewissermaßen aus einem der maroden Nähkästchen der Monarchie, aus den Innereien einer über 500 Jahre alten Institution, die sich 1999 - in diesem Jahr spielt auch der Roman - vor einer dringend nötigen Erneuerung sah: Bis dahin hatten mehrere Hundert der insgesamt 700 Oberhaus-Mitglieder ihren Sitz nicht durch eigene politische Verdienste, sondern durch Erbfolge erhalten, ab sofort wurden die Zahl dieser sogenannten Erblords auf 92 reduziert. Zu den derart Degradierten gehört auch Martin Nanther, der Urenkel jenes legendären Arztes Henry Nanther, der einst im Dienste der Royal Family die in Adelskreisen gängige - und für das Überleben der männlichen Nachkommen oft lebensgefährlichen - Bluterkrankheit erforschte. Es ist eine durchaus demokratisierende Ironie der Geschichte, dass Hämophilie nicht nur in der aufgeklärten britischen Oberschicht, sondern auch in der rückständigen Weltabgeschiedenheit schweizerischer Bergdörfer am besten zu studieren ist, und so führen die Wege der Vineschen Helden zum ersten Mal auch ausführlich durch die Schweiz, nach Zürich und ins Safiental. Denn Martin und seine Frau Jude steigern sich immer mehr in das Projekt hinein, die Vergangenheit ihres prominenten Vorfahrens aufdecken und vor allem enträtseln zu wollen.

Königliche Krankheit ist das Buch der virtuosen Parallelschaltungen: Die viktorianische Hofgesellschaft steht gegen das Schweizer Bergdorf, die Krankheit einer durch aristokratische oder inzestuöse Degeneriertheit beeinträchtigten Gesellschaftsgruppe gegen die historische Überholtheit des traditionellen britischen Regierungsapparates. Vor allem aber steht Henry Nanther, in seinem Fachgebiet ein fanatischer, gar verbrecherischer Pionier mit allen Aspekten eines Dr. Frankenstein, wenn es darum ging, Forschungsobjekte zu rekrutieren, am Anfang eines langen, risikoreichen Weges wissenschaftlichen Fortschritts. Eines Weges, der seinen zweifelhaften Gipfel wiederum in der Gegenwart findet, als Martin und Jude sich zu einer künstlichen Befruchtung gezwungen sehen, weil beide zwar nicht an Hämophilie aber an einer andern genetisch für immer codierten Krankheit leiden.

Es ist eine grosse Frage, die Barbara Vine in Königliche Krankheit mit verhandelt und mit zunehmend persönlichkeitszersetzender Intensität in den Köpfen ihrer Figuren auffächert, die Frage nämlich nach der genetischen wie gesellschaftlichen Determiniertheit eines Individuums. Die düsteren Schattierungen dieses Komplexes strahlen von all ihren historischen und geopolitischen Schauplätzen immer wieder auf die persönliche Gegenwart von Martin und Jude zurück und ziehen sich schillernd wie die oft beschriebenen Blutergüsse der Kranken durch das Buch. Und so folgt man nach geringen Anfangsschwierigkeiten - das große Personal, die ungewohnte Umgebung des House of Lords - in zunehmender Atemlosigkeit einem in der ungemein britischen Tradition von Figuren wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde und eben Dr. Frankenstein stehenden historischen Arztroman, der über komplizierte und ausgedehnte, manchmal ins Leere führende Recherchen allmählich zustande kommt und in seinem Entstehen fast die Lebensenergie aus den Adern seiner Schöpfer zu saugen droht. Beinahe wird die Geschichte über Henry Nanther für Martin und Jude zu einem Zwilling von Frankensteins Monster.

In Berlin, in der Kreuzberger Friesenstrasse, veranstaltet der Krimibuchhändler übrigens gerade eine Lesung mit der Krimiautorin Val McDermid. Viele Leute haben schon Unmengen von Anekdoten über Rendell/Vine verbreitet, ihre verdächtige Angewohnheit, bereits zum 18. Mal in London umgezogen zu sein, ihre auffallende Energie, die sie aus dem Krimischreiben schöpft und die sich ganz klar wie die Energie der Vampire vom Blut nährt. Doch nur Val McDermid beschreibt in einem Essay jenen verstörenden Vorfall, der Ruth Rendell damals dazu bewogen haben soll, ihre Journalistinnenkarriere an den Nagel zu hängen und hinfort als reinkarnierte Agathe Christie durchs Leben zu gehen. "Man erzählt sich", schreibt McDermid, "dass sie einmal einen Bericht über eine Rede schreiben musste. Sie wurde nach einem Abendessen gehalten, und um ihre Deadline einhalten zu können, hatte sich Ruth Rendell vorher eine Kopie der Rede geben lassen. Unglücklicherweise fiel der Redner jedoch während seiner Ansprache tot um. Am nächsten Morgen kündigte sie ihren Job." Bloß eine Legende? Oder etwa ein Toter als Studienvorlage à la Henry Nanther?

Barbara Vine: Königliche Krankheit. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Diogenes, Zürich 2003. 586 S., 23,90 EUR


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