Wenn Nadine Wenzke an Feiertagen, zu Ostern oder Weihnachten Dienst hat, rüstet sie sich. Dann bereitet sie sich innerlich darauf vor, dass der Polizeinotruf 110 häufiger gewählt wird als sonst, und die Polizistin und ihre Kollegen öfter ausrücken müssen. „Feiertage können Krisentage sein“, sagt Wenzke. Familien hocken aufeinander, sie langweilen sich, gehen sich gegenseitig auf die Nerven, trinken mehr Alkohol als sonst. Bier und Schnaps lösen Emotionen aus, die die Frauen und Männer nicht mehr im Griff haben.
„Die Luft brennt manchmal in Sekunden“, sagt die Berliner Polizeioberkommissarin: „Dann rutscht die Hand schon mal aus.“ Rund 16.000 Mal im Jahr rückt die Polizei in Berlin aus, um Partnerschaftsstreits und Gewaltausbrüche in Wohnungen zu beenden. Dann sind Leute wie Wenzke gefragt: Sie ist Opferschutzbeauftragte und Expertin für Fälle häuslicher Gewalt, sie weiß, wie man Eskalationen zwischen Paaren beendet.
Jede vierte Frau in Deutschland erlebt Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner, hat eine Studie des Bundesfamilienministeriums ergeben. In konkreten Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA) liest sich das so: 127.457 Menschen, die 2015 in Deutschland Opfer von Mord, Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, Stalking geworden sind, wurden von ihren aktuellen oder früheren Partnerinnen und Partnern angegriffen. 82 Prozent der Opfer waren Frauen, 80 Prozent der Täter waren Männer.
Solche Zahlen werden in diesen Tagen häufig genannt: Am 25. November ist Internationaler Tag zur Beseitigung der Gewalt an Frauen. Seit Beginn der 1980er Jahre organisieren Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, Frauenhäuser und Gewaltschutzeinrichtungen an diesem Tag Veranstaltungen, die auf die gewaltsamen Übergriffe aufmerksam machen. Das Thema hat mittlerweile die Vereinten Nationen (UN) erreicht. „Es ist eine harte, aber wahre Realität, eine von drei Frauen erlebt in ihrem Leben Gewalt“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres im September am Rande der Vollversammlung der Vereinten Nationen: „Gewalt gegen Frauen und Mädchen macht Leben kaputt und bringt Schmerz für Generationen.“
Erst ist die Liebe noch groß
Wenzke, noch keine 40, ist eine zierliche Frau mit einem weichen Gesicht und einer sanften Stimme. Die Polizeiuniform schlackert um ihren Körper. Wie schafft es diese zurückhaltende Frau, unter Strom stehende Männer zu besänftigen und wütende, schreiende Frauen zum Schweigen zu bringen? Die Auslöser für die Wutausbrüche der Männer sind mitunter banal, erzählt Wenzke: Das Essen ist versalzen. Das Bier steht nicht rechtzeitig auf dem Tisch. Die Kinder sind zu laut. „Keine Gründe, die einen Übergriff rechtfertigen würden“, sagt die Kommissarin. „Häufig sind die Gründe an den Haaren herbeigezogen.“
Besonders gefährlich werden kann es für Frauen, wenn sie sich von ihren Partner trennen wollen. „Manche Männer verkraften es nicht, wenn die Frau ihren eigenen Weg gehen will“, sagt Wenzke: „Sie sind es gewohnt, dass die Frau macht, was der Mann will, dass er die Oberhand hat. Wenn die Frau ankündigt zu gehen, fühlen sich die Männer ihrer Machtposition beraubt. Um dieses Gefühl zu kompensieren, schlagen manche zu.“
Der Studie des Familienministeriums zufolge haben 37 Prozent der Befragten mindestens einmal seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche Gewalt erfahren: Wegschubsen, Ohrfeigen, Faustschläge. Nahezu jede siebte Frau gab an, sexuelle Gewalt erlebt zu haben, von Petting bis hin zu einer Vergewaltigung.
Jeder Fall von häuslicher Gewalt ist individuell. Aber es gibt Muster, die sich wiederholen. Zunächst ist die Nähe zwischen den beiden Liebenden groß, irgendwann wird er lauter, wenn das Paar miteinander redet, er will Recht haben. Sie gibt nach, weil sie nicht will, dass Streits eskalieren, manchmal sagt sie gar nichts mehr. Aber das nutzt nichts, er findet immer einen Grund, sie anzubrüllen. Irgendwann gibt er ihr eine Ohrfeige, aus Versehen, wie er später versichern wird. Sie ist verstört, aber sie liebt ihn immer noch, also verzeiht sie ihm und sucht die Schuld bei sich selbst.
Und so geht es weiter, bis Gewalt zum Alltag gehört. Die Opfer leiden, werden krank, schieben es aber auf den Stress im Alltag: Kinder, Job, kranke Eltern. Irgendwann hält die Frau es nicht mehr aus und will sich trennen. Das reizt ihn noch mehr, er droht: Du bleibst bei mir oder es passiert was Schlimmes.
Bevor Frauen das erste Mal die Polizei rufen, haben die Männer bereits mehrfach zugeschlagen, sagt Oberkommissarin Wenzke: „Durchschnittlich acht Mal hat häusliche Gewalt dann schon stattgefunden.“ Die Frauen melden sich so spät, weil sie Angst haben vor den Folgen eines Polizeieinsatzes zu Hause. Weil sie sich schämen: Was sollen nur die Nachbarn sagen? Und was die Kinder denken, wenn nachts plötzlich Polizisten in der Wohnung auftauchen?
Die Gewaltübergriffe haben Folgen für die Opfer: Prellungen, blaue Flecken, Knochenbrüche, Kopf- und Gesichtsverletzungen, offene Wunden, Scheidenverletzungen, Traumatisierungen. Wobei die psychischen Beschwerden in der Regel weniger sichtbar sind, häufig aber umso gravierender. „Die Befunde zeigen, dass alle erfassten Formen von Gewalt und Belästigung in hohem Maße zu psychischen Folgebeschwerden führen können, die von Schlafstörungen, erhöhten Ängsten und vermindertem Selbstwertgefühl über Niedergeschlagenheit und Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken, Selbstverletzung und Essstörungen reichen“, heißt es in der Studie des Familienministeriums.
„Sie ist doch selbst schuld“
Manchmal öffnet Wenzke und ihren Kolleginnen und Kollegen eine Frau mit blutender Nase die Tür und sagt: Ich bin im Bad ausgerutscht. Und der blaue Fleck über der Augenbraue? Vom Sturz, da bin ich mit dem Gesicht auf den Badewannenrand geknallt. Das sollen wir glauben? Ja, ich bin ein bisschen tollpatschig. Sagt mein Mann auch. Aber die Nachbarn haben doch Ihre Schreie gehört, also, was war hier los? Nichts, wirklich nichts, das können Sie glauben. Wir sind eben ein bisschen lauter als die anderen.
Früher gaben sich die Polizisten und Polizistinnen häufig mit solchen Aussagen zufrieden. Und zogen wieder ab, nachdem sie das streitende Paar getrennt hatten. Früher lautete der Tenor: Bei denen hat es mal wieder mächtig geknallt. Früher sei häusliche Gewalt als Bagatelle abgetan worden, als Streit unter Eheleuten, als Privatangelegenheit, sagt Heike Lütgert, ehemalige Erste Kriminalhauptkommissarin in Bielefeld. Das hieß dann Familienstreitigkeit. „Allein der Begriff sagt alles“, findet Lütgert: „Als ginge es dort um einen lapidaren Krach, der keine weitere Bedeutung hat.“ Solche Fälle wurden früher nicht einmal statistisch erfasst. Es gibt keine soziale Gruppe, die verschont von Partnerschaftsgewalt bleibt, sie findet in jedem Milieu statt. Es ist ein Trugschluss zu glauben, vor allem sogenannte bildungsferne Schichten würden sich gegenseitig verprügeln, sagt Lütgert: „Das gibt es auch im Akademikermilieu. Aber der Herr Professor stellt es vielleicht ein bisschen geschickter an als andere.“
Überfüllte Frauenhäuser
Er boxt seiner Frau nicht ins Gesicht, ein blaues Auge und die aufgeplatzte Augenbraue sind ja nicht zu übersehen. Ein Unfall beim Fensterputzen oder beim Staubwischen sieht anders aus. Wenn „der Herr Professor“ zuschlägt, dann auf die Oberarme seiner Frau, er tritt ihr in den Hintern. Wenn Spuren bleiben, sieht die niemand, denn die Frau wird sie niemandem zeigen. Es ist ihr peinlich, einen Mann geheiratet zu haben, der gewalttätig ist gegen seine Frau.
Gewalttäter aus der Mittel- und Oberschicht werden seltener angezeigt, hat Heike Lütgert in ihren Dienstjahren erfahren: „Je höher die gesellschaftliche Stellung eines Paares, umso schwieriger wird es für die gepeinigte Frau, zur Polizei zu gehen.“ Frauen mit einem hohen Bildungsstand wüssten, dass sie etwas hätten tun müssen gegen die Gewalt ihres Mannes. Aber sie schämten sich, wenn sie das nicht getan oder es nicht geschafft hätten, sich rechtzeitig zu trennen. Die Fassade der gutbürgerlichen Familie müsse in jedem Fall gewahrt bleiben.
Obwohl häusliche Gewalt mittlerweile gesellschaftlich geächtet wird, halten sich hartnäckig sogenannte Gewaltmythen, die Übergriffe rechtfertigen und verharmlosen: Das passiert nur im Suff. Sie ist doch selbst schuld, warum provoziert sie ihn auch so. Wie soll er sich denn sonst wehren, sie ist ihm verbal und intellektuell doch überlegen? Solche Vorurteile erklären Partnerschaftsgewalt zum privaten Problem und verlagern die „Schuld“ weg vom Täter hin zum Opfer. Oberkommissarin Wenzke widerspricht: Es gibt kein „Fehlverhalten“, das Gewalt rechtfertigen würde. Wer Gewalt ausübt, will Macht demonstrieren, unterdrücken, unterwerfen, seinen Willen durchsetzen.
Seit 2002 soll das Gewaltschutzgesetz Opfer schützen und Täter bestrafen. Das Gesetz erlaubt es auch, dass Wenzke und ihre Kolleginnen und Kollegen den Täter aus der Wohnung verweisen, dann darf er in den nächsten zehn Tagen nicht nach Hause kommen. Sie machen ihm klar, dass es höchstwahrscheinlich zu einem Prozess kommen wird, unabhängig davon, ob seine Frau ihn anzeigt oder nicht. Und sie geben der Frau Telefonnummern von Frauenhäusern und Beratungsstellen.
Doch die rund 400 Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen für Opfer von Partnerschaftsgewalt mit insgesamt 6.000 Plätzen, die Opfern Schutz bieten, sind regelmäßig überfüllt und chronisch unterfinanziert. Auf eine Frau, die Hilfe in einem Frauenhaus findet, kommen zwei Frauen, die abgewiesen werden, weil es kein freies Bett gibt. Die letzte Bundesregierung aus Union und SPD hatte das zunächst ändern wollen, doch alsbald verschwand das Thema von der Agenda. Angesichts des Rechtsrucks, der sich bei der Bundestagswahl vollzogen hat, dürften sich Opferverbände und Frauenhäuser von der nächsten Regierung kaum mehr versprechen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.