Keine Trümmerfrau

SPD-Vorsitzende Andrea Nahles wurde mit 66 Prozent gewählt. Das ist Fluch und Segen zugleich
Auf große Worte müssen jetzt große Taten folgen
Auf große Worte müssen jetzt große Taten folgen

Foto: Simon Hofmann/Getty Images

66 Prozent. Eine „Backpfeife für Andrea Nahles“, findet die Welt. Eine „Ohrfeige“, kommentierte RP online. Für den Stern war es gar eine “kindische Ohrfeige“. So kann man das sehen. Man kann aber auch fragen: Sind die 66 Prozent, mit denen Andrea Nahles am Sonntag zur SPD-Chefin gewählt worden ist, wirklich so niederschmetternd und enttäuschend?

Ohne den Gender-Aspekt kann man die Personalie Nahles nicht betrachten. Nahles ist die allererste Frau an der Spitze der SPD. Einer Partei, die vor einhundert Jahren mit dafür gesorgt hat, dass Frauen wählen und damit Politik direkt mitbestimmen können. Frauen zählen was in der SPD. Und doch haben es die Sozialdemokraten nicht schon früher geschafft, die männliche Vorherrschaft innerhalb der eigenen Reihen zu brechen. Insofern sind die 66 Prozent für Nahles zunächst einmal das: ein Erfolg für Nahles selbst.

66 Prozent. Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil das Ergebnis durchaus hätte besser sein können. So wie das ihrer männlichen Vorgänger: Müntefering wurde 2008 mit 85 Prozent als SPD-Chef wiedergewählt. Sigmar Gabriel bekam 2013 fast 84 Prozent. Und dann das „Schulz-Wunder“ vom März 2017: satte 100 Prozent für Martin Schulz. Das beste Ergebnis eines SPD-Vorsitzenden seit Kriegsende.

Dagegen sehen die 66 Nahles-Prozent tatsächlich erschütternd aus. Aber all die Männer vor ihr haben es – trotz des hohen Zuspruchs – nicht dauerhaft gebracht. Und dann zuletzt das leidvolle Scheitern des Martin Schulz: im Dezember 2017 mit 82 Prozent, dem fünftschlechtesten Ergebnis seit 1946, wiedergewählt und im März 2018 vom Parteivorsitz zurückgetreten. Diese „Schulz-Story“ hat nicht nur die SPD noch schmerzhaft vor Augen. In der gesamten Republik erntete der „Mann aus Würselen“ Spott und Häme.

Die SPD ist zerstört. Und nun soll mit Nahles eine Frau die Partei aufrichten, sie wieder zu jener stolzen Organisation machen, die sie einmal war. Schon werden Zuschreibungen hervorgekramt, mit den Frauen in solchen und ähnlichen Lagen gern bedacht werden: Trümmerfrau. Die „Trümmerfrau“ soll Aufbauarbeit leisten.

Aber das ist zu kurz gedacht. Zum einen ist Nahles keine, die sich mit diesem Bild identifizieren könnte. Dafür hat sie zu lange, zu intensiv und zu gezielt an ihrer Parteikarriere gearbeitet. Sie ist jetzt da, wo sie immer hinwollte. Das ist keine „Trümmerfrau“, das ist eine Macherin.

Die im Vergleich zu 85 und 100 Prozent mageren 66 Nahles-Punkte haben unter anderem damit zu tun, dass die SPD-Frau nicht in jedem Fall ein gängiges „Frauen-Bild“ abgibt. Vermeintlich feminine Stereotype bedient Nahles nicht. Anderen eins „in die Fresse“ geben, vielleicht mit „verdammter Kacke nochmal“ und dann noch „bätschi“ hinterher werfen, das wollen viele nicht sehen und hören – weder in der SPD noch außerhalb der Partei. Das erscheint schlicht als zu unweiblich – ein Beleg dafür, wie stark Geschlechternarrative in den Köpfen und Herzen der Menschen (noch) verankert sind.

Nahles’ burschikose Art ist aber ebenso ihr Vorteil: 66 Prozent als Segen. Härteres, souveränes Auftreten kann in bestimmten Kreisen durchaus verfangen: Die lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, die kann man nicht so einfach in die Tasche stecken. Zugespitzt formuliert: Niemand sollte Nahles unterschätzen.

Andererseits darf man keine Wunder von ihr erwarten. Das wiederum würde weitere Geschlechterklischees bedienen: Frauen machen alles anders und alles besser. Warum sollten sie das? Vielmehr ist es so, dass Frauen einen anderen Blick auf die Welt haben als Männer. Sie sehen, was Männer übersehen. Sie denken an Dinge, die Männer vergessen. Wenn dieser Aspekt ernst genommen würde, wäre die Personalie Nahles nichts weiter als: normal. Und erst dann wären die SPD und die Gesellschaft tatsächlich im 21. Jahrhundert angekommen.

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Geschrieben von

Simone Schmollack

Chefredakteurin der Freitag

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