Sich selber stricken

Wahl Seit 100 Jahren stimmen Frauen mit ab. Heute leiden sie unter den vielen Entscheidungsmöglichkeiten des Lebens
Ausgabe 10/2018
Sich selber stricken

Foto: Laura Breiling für der Freitag

Mitte Februar schreibt die Studentin Sarah Yilmaz folgenden Tweet: „Mutter arbeitet: ‚Rabenmutter! Verbringt zu wenig Zeit mit ihren Kindern!‘ Mutter bleibt zu Hause: ‚Überhaupt nicht emanzipiert, faul, abhängig, nicht zeitgemäß!‘ “

Andrea Nahles ist eine erfolgreiche SPD-Politikerin: kompetent, machtbewusst, durchsetzungsstark. Eine Frau, die sich sagen lassen muss, sie sei „der einzige Mann in der SPD“.

Diese beiden Zitate beschreiben ein Problem von Frauen heute: Wie sie es auch anstellen, irgendetwas daran ist immer falsch. Warum? Weil es kein eindeutiges Frauenbild gibt, so wie noch vor einigen Jahrzehnten? Dafür gibt es jede Menge vorherrschende, meist eindimensionale Zuschreibungen: Weibchen mit Kernkompetenz für Kinder, Küche, Vorgarten. Oder machthungrige Karrierefrauen, denen feminine Eigenschaften abhandengekommen sind.

Haben Frauen eine andere Wahl? Dürfen sie einfach so sein, wie sie nun mal sind: stark, schwach, Mutter, kinderlos, Chefin, Hausfrau? So unterschiedlich also wie das Leben selbst? Und eine Wahl jenseits der fakultativ-obligatorischen Möglichkeit, über den Bundestag, ein Kommunal- oder Landesparlament mitzuentscheiden?

1918, vor einhundert Jahren, durften in Deutschland Frauen das erste Mal an die Wahlurne treten. Dafür haben sie jahrzehntelang gekämpft, dafür mussten sie sich beschimpfen und verprügeln lassen. Heute ist das Frauenwahlrecht selbstverständlich. Niemand käme auf die Idee, daran zu rütteln. Aber die Welt hat sich verändert – und mit ihr die Frage nach den Wahlmöglichkeiten für Frauen: Sie dürfen heiraten wen und wann sie wollen, sie können sich scheiden lassen. Sie können Kinder bekommen oder keine. Sie dürfen (noch) abtreiben. Sie können studieren und Professorin werden, Politikerin, Hausfrau, Kranführerin, Prostituierte. Kurz: Die Vielfalt weiblicher Entfaltung ist in der westlichen Industriegesellschaft so groß wie nie zuvor. So etwas wie ein Frauenbild gibt es nicht mehr. Julia Gillard, von 2010 bis 2013 Australiens erste Premierministerin, führt das par excellence vor: Im Amt hat sie gegen Sexismus und für Genderthemen gestritten – und am Abend gestrickt. Eine harte Kämpferin mit weichem Hobby.

Freiheit! Und Zweifel

Was folgt daraus? Für nicht wenige Frauen so etwas wie die berühmte „Qual der Wahl“: Wie will ich leben? Wer will ich sein? Frauen stehen heute gewaltig unter Druck, sagt die Soziologin und Chefin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger: „Noch nie waren Frauen zwischen 25 und 35 so zerrissen. Sie wollen Karriere machen und Geld verdienen. Aber sie wünschen sich auch Kinder und einen Mann, der sie unterstützt.“ Frauen würden sich zerreiben zwischen ihren Wünschen und Ansprüchen und dem, was machbar ist.

Für uns hier in der Freitag-Redaktion Grund genug, am heutigen Internationalen Frauentag die Hälfte dieser Ausgabe der Hälfte der Menschheit zu widmen: Frauen. Eine Ausgabe, die das Jubiläum von 100 Jahren Frauenwahlrecht zum Anlass nimmt, um sowohl an den Kampf von Frauen- und Wahlrechtlerinnen in Deutschland, England und der Schweiz zu erinnern als auch den Blick über die Historie hinaus zu weiten. Wir rücken den Druck, dem Frauen heute ausgesetzt sind, in den Fokus: Wenn ich ein Kind bekomme, ist meine Karriere für die nächste Zeit futsch. Als Chefin verlasse ich meine Komfortzone – will ich das wirklich? Kriege ich ein Leben als Alleinerziehende hin? Ich arbeite zehn Stunden am Tag, bin ich denn nur noch für den Job da?

Es scheint ein Paradoxon zu sein: All die Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten heute, an die Frauen vor einhundert Jahren nicht einmal denken konnten, wollen Frauen heute nicht mehr missen. Gleichzeitig zweifeln manche an sich, versuchen sich selbst zu optimieren: Wie kann ich noch mehr aus mir herausholen?

Darin sieht die Soziologin Greta Wagner eine Neoliberalisierung der Geschlechterverhältnisse, eine Entwicklung, die Frauen zu fremdbestimmten Wesen macht. „In dem Moment, in dem Wettbewerbe alle Lebensbereiche bestimmen, muss jeder Einzelne versuchen, sich selbst zu verbessern“, schreibt Wagner in Das optimierte Selbst.

Fragen, die fernab des Alltags von Mapuche-Frauen in Chile sind. Als Ethnie und als Frauen werden sie vom Staat diskriminiert, weswegen sie sich weigern, zu wählen. Lesen Sie dazu die Reportage von Sophie Boddenburg. Außerdem wollen wir von drei Frauen unterschiedlicher Generationen wissen: Wie viel ist Ihnen das Wahlrecht wert? Wir hinterfragen weibliches Konsumverhalten sowie den antifeministischen Diskurs der neuen Rechten. Und was haben #metoo, Gefühle in der Politik, Satire und das neue Kabinett mit dem Wahlrecht zu tun?

Lesen Sie selbst.

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