Zwischen Sensationsneugier und Empirie

#MeToo Bei der Debatte um sexuelle Übergriffe schwingt immer eine gehörige Portion Voyeurismus mit. Das ist nicht unproblematisch, führt aber auch zu einem breiteren Nachdenken
Nach wie vor muss es darum gehen, über die Strukturen zu reden, die sexuelle Übergriffe zulassen
Nach wie vor muss es darum gehen, über die Strukturen zu reden, die sexuelle Übergriffe zulassen

Foto: imago/Bildgehege

Wann hört das endlich auf? Jeden Tag neue Nachrichten aus dem Kosmos #MeToo. Dieter Wedel, der Kultregisseur, der seit einigen Wochen von mehreren Schauspielerinnen sexueller Übergriffe beschuldigt wird, liegt jetzt im Krankenhaus. All die „Anfeindungen haben für mich in meinem 76sten Lebensjahr ein für meine Gesundheit (...) erträgliches Maß weit überschritten“, schreibt er in einer persönlichen Stellungnahme. Jetzt ist er vom Posten als Intendant der Bad Hersfelder Festspiele zurückgetreten.

Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen unter anderem ein offener Brief französischer Schauspielerinnen, die um die Kultur des Flirtens fürchten, eine ausgesetzte Ausstellung des amerikanischen Starfotografen Bruce Weber, dem sexuelle Belästigung mancher seiner Models vorgeworfen wird, und die Geschichte einer jungen Frau, die schlechten Sex mit einem prominenten Comedian hatte.

Die Gemengelage ist gewaltig. Und die Fragen, die mit jeder neuen „Enthüllung“ einhergehen, werden schwieriger: Wo liegt die Grenze zur Denunziation? Was ist schlechter Sex? Und wann darf ich was in der Öffentlichkeit erzählen? Wem glaubt man eher, den Opfern oder den beschuldigten Personen? Vor allem: Ist Glauben bei all diesen Fällen überhaupt eine relevante Komponente?

Es geht noch immer um Strukturen

Je länger die Debatte geführt wird, umso stärker wird der einstige Grund für #MeToo aus dem Diskurs gewaschen: Reden über die Strukturen, die sexuelle Übergriffe zulassen, sowie das Aufbrechen dieser Strukturen.

Nun geht das eine nicht ohne das andere: Fälle schildern, Namen nennen, darüber das perfide System von Macht und Ohnmacht verstehen. Aber es geht nicht darum, ob Wedel im Krankenhaus liegt. Es geht auch nicht darum, ob sich jemand auf Sex einlässt und nicht rechtzeitig Stopp sagt, weil das Gefummel bald lästig wird. Die Debatte auf solche Aspekte herunterzubrechen, schadet der Aufklärungsidee von #MeToo.

Und doch schwingt bei all den News zu Sexismus und sexualisierter Gewalt, die Facebook, Twitter und zahlreiche Medien in den Alltag der Menschen spülen, stets eine gewaltige Portion Voyerismus mit. Davon kann sich kaum jemand frei machen. Was ist da los? Wer hat wann was getan? Wie hat sich das Opfer verhalten? Wer wird als nächstes geoutet?

Es ist ein schmaler Grat zwischen Sensationsneugier und Empirie. Und doch bewirkt der pure Drang wissen zu wollen, wie Menschen sexualisierte Gewalt erlebt haben, ein breites Nachdenken über die Strukturen, die die Übergriffe scheinbar legitimieren. #MeToo ist Gesprächsstoff nicht nur in Redaktionen und Organisationen, sondern verstärkt an Küchen- und Kneipentischen. In den Diskurs mischen sich Menschen ein, die früher kaum über Sexismus, Macht und Machtgefälle nachgedacht haben. Auch Menschen, die glaubten, immun zu sein gegen solche Vorgänge. Plötzlich verstehen sie, dass sie Teil des Systems sind – und wollen da nicht mehr mitmachen.

Darin liegt die Stärke von #MeToo. Das sollte man schätzen.

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Geschrieben von

Simone Schmollack

Chefredakteurin der Freitag

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