Erst anlocken, dann kastrieren

Online-Dating Vorsicht vor digitalen Sirenen! Denn sie suchen bei Tinder weder Liebe noch Sex, sondern sind allein zum Lästern dort
Ausgabe 14/2017

Immer wieder kommt es vor, dass der Wissenschaft Erstaunliches gelingt. Etwa Fotos von der Marsoberfläche oder die Erkenntnis, dass sich Hunde am Magnetfeld der Erde ausrichten, wenn sie ihr Geschäft verrichten. Dann gibt es Tage wie den Mittwoch der vergangenen Woche, an dem der US-amerikanische Studentenkreditfinanzierer LendEDU seine Tinder-Studie veröffentlichte. Tinder, das ist eine Dating-App, auf der sich karohemdtragende Studenten mit „Work hard, play hard“-Attitüde durch einfaches Wischen auf dem Smartphone zu Sex mit minifahrenden Privatstudentinnen, die „nächstes Jahr unbedingt zum Tomorrowland-Festival wollen“, verabreden (und umgekehrt). Dachte man zumindest. Denn die Studie kommt zu einer überraschenden Erkenntnis.

„Halt“, werden Sie jetzt vielleicht sagen, „was interessieren mich Studien über brunftige Millennials! Forscht lieber weiter an diesen Hunden, die ihre Haufen erdmagnetisch korrekt platzieren!“ Der oder die biologisch Interessierte ahnt jedoch, dass wir es hier mit einer Entdeckung Humboldt’schen Ausmaßes zu tun haben – einem Einblick in ein bisher unbekanntes Biotop: Weil normales Dating (Dinner, Kino, Tanzkarten) offenbar einem Großteil unserer Gesellschaft zu kompliziert geworden ist, hat sich auf Tinder eine steinzeitlich anmutende Parallelwelt entwickelt, in der datingscheue Lebewesen ihren Trieben nachgehen.

Grob lassen sich die Lebewesen der Tinderwelt in zwei Hauptarten unterteilen. Die Wichtigsten sind die Primaten (Homo erectus): halbstarke Vollaffen und -äffinnen, im gnadenlosen Überlebenskampf mit ihren Artgenossen, Hobbys: Reisen, Partys, Workout. Diese Primaten sind die Einzigen, die Tinder richtig verstanden haben. Und so sehen sie ihre Hauptaufgabe darin, sich in permanentem Beischlaf selbst zu erhalten. In ihrem Schatten leben laut Studie rund vier Prozent Romeos. Im Gegensatz zu den Primaten glauben diese daran, auf Tinder die wahre Liebe finden zu können. Tatsächlich taumeln sie betrunken durch die Gärten Veronas, ohne jemals den Balkon zu finden.

Der Durchbruch der Studie liegt allerdings in der Entdeckung einer dritten Spezies: der Sirenen. Sirenen sind die evolutionäre Speerspitze des Tinderversums – und zugleich seine größte Bedrohung. Denn die Forschung zeigt: Anders als Primaten ziehen Sirenen ihre Selbstbestätigung nicht aus faktischem Geschlechtsverkehr. Ihnen reicht schon die theoretische Möglichkeit dazu. Sirenen tindern aus reinem Narzissmus, und locken wackere Primaten an – um sie dann vor dem Akt in freudscher Manier zu kastrieren. Etwa indem sie sich plötzlich nicht mehr melden oder über fehlende Bauchmuskeln, zweifelhafte Selbstdarstellung oder mangelhafte Rechtschreibung herziehen. Die Studie beziffert die Sirenenpopulation bei Tinder auf 44 Prozent. Die katastrophale Konsequenz dieser biologischen Inversion: Wohin mit all den Primaten, hunderttausenden wackerer Artgenossen, die mit der Angst leben müssen, beim nächsten Kontakt der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden? Da kann man ja gleich wieder wie früher mal ins Kino gehen und Tanzkarten verteilen!

Die Entdeckung der Tinder-Sirenen gleicht einem erdmittelalterlichen Meteoriteneinschlag. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Terra X, Harald Lesch und Guido Knopp der Sache annehmen. Sie sehen: Auch schwachsinnige Studien können Erkenntnisse bringen. Man muss sich nur sehr, sehr viel Mühe geben.

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Geschrieben von

Simon Schaffhöfer

Taugenichts und Pausenclown

Simon Schaffhöfer

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