Melden ist Pflicht

Familie Wer in Shanghai seine Eltern nicht besucht, kann bestraft werden. Ein Modell für den Westen?
Ausgabe 16/2016
In "The Villages" leben Pensionäre in einem ganzjährigen Altherrentraum
In "The Villages" leben Pensionäre in einem ganzjährigen Altherrentraum

Bild: Chip Somodevilla/ Getty Images

Ginge es nach Mutter, könnte ich jeden Tag zum Essen kommen. Denn Mütter beschweren sich in der Regel nicht über unangemeldeten Besuch. Dafür sind sie aber sehr penibel, wenn man zu selten kommt. In Shanghai können sie dabei nun gerichtliche Hilfe bekommen. Dort schreibt ein neues Gesetz erwachsenen Kindern vor, ihre Eltern regelmäßig zu besuchen oder sich bei ihnen zu melden.

Fühlen sich Eltern vernachlässigt, können sie ihren Nachwuchs verklagen. Im schlimmsten Fall droht der Verlust der Kreditwürdigkeit. Unachtsame Kinder riskieren also ihre finanzielle Unabhängigkeit. Sie haben schon wieder den Geburtstag ihrer Mutter vergessen? Das war’s dann wohl mit dem Traum vom Eigenheim. Was sich anhört wie Taschengeldentzug 2.0, hat indes einen ernsten Kern: Die Bevölkerung Shanghais wird immer älter. Schon jetzt sind 30 Prozent der Einwohner über 60 Jahre alt, Tendenz steigend. Zudem werden viele Familien durch Wanderarbeit auseinandergerissen. Beschwerden wegen „Vernachlässigung“ gären deshalb schon länger. Jetzt soll durch Kreditbewertungen Druck ausgeübt werden.

Überalterung und mangelnde familiäre Unterstützung sind jedoch kein rein chinesisches Problem. Tatsächlich steht der Westen vor ähnlichen Fragen. Wie sollen wir mit unseren Älteren umgehen? Unsere Musterlösung heißt: Outsourcing. Altersheime öffnen reihenweise ihre extrabreiten Glastüren. Die Kleinwagen ambulanter Pflegedienste gehören zum Stadtbild. Der chinesische Ansatz wirkt gleichermaßen absurd wie autoritär – ist unsere Alternative aber wirklich so viel besser? Wie unsere outgesourcte Pietät in Reinkultur aussieht, zeigt sich etwa in „The Villages“, einer Rentnerstadt im Rentnerstaat Florida.

Hier leben Pensionäre in einem ganzjährigen Altherrentraum. Man fährt Golfkart, geht zum Bingo und im Radio läuft Werbung für billige Viagra-Kopien. Wer alleine kommt, sucht sich schnell einen gut betuchten Partner. Die Straßen sind blitzblank, der Rasen adäquat getrimmt und ordnungsgemäß eingezäunt. Ihren zweiten Frühling im Sunshine-State verteidigen die Premiumrentner mit Schranken und Sicherheitsleuten. Gegen Kriminelle, weniger solvente Artgenossen und vor allem: gegen Kinder. Denn die plärren, lärmen und haben in der Gated Gerontokratie sowieso nichts zu suchen. In „The Villages“ würde niemand seinen Nachwuchs wegen Vernachlässigung verklagen. Die gehört hier vielmehr zum guten Ton.

Sieht man diese Fälle als Tendenzen einer globalen Entwicklung, steuern wir also auf zwei Extreme zu: Shanghai löst das Problem mit paternalistischer Härte, im libertären Florida regelt es der entfesselte Markt. Entweder Sie lassen sich von Ihren Eltern die Kreditwürdigkeit entziehen oder nutzen ihren makellosen Schufa-Eintrag, um diese mittels eines hermetischen Club-Urlaubs im Rentnercamp ruhigzustellen.

Mutter wäre sicher mit keinem von beiden zufrieden. Denn ein vernünftiges Generationenverhältnis entwickelt sich weder durch staatlichen Zwang noch durch den Markt. In China bräuchte es deshalb keine paternalen Anweisungen, sondern staatliche Unterstützung. Und den Bewohnern von „The Villages“ würde ein Kindergarten vermutlich besser tun als ein Golfplatz. So entstünde wahrscheinlich ein Mittelweg zwischen Gerichtsprozess und Golfkart. Und jetzt rufen Sie Ihre Eltern an. Die haben bestimmt noch Essen auf dem Herd.

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Geschrieben von

Simon Schaffhöfer

Taugenichts und Pausenclown

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