Nazis wegwürfeln

Nicht in Berlin Rechtsradikale marschieren durch Dortmund – und bekommen lauter Spiegel vorgehalten
Ausgabe 23/2016

Wie ein glänzender Sisyphos sieht Artúr van Balen aus, als er den ersten aufgeblasenen Spiegelwürfel schultert. Den Gang leicht nach vorn gelehnt, trägt er den anderthalb Meter großen Folienballon Richtung Dortmunder Nordstadt. Die frühen Sonnenstrahlen brechen sich in dem Würfel und werfen helle Fresken auf die Gesichter der mitlaufenden Gruppe. Griechische Mythologie meets Bee Gees.

Auf den ersten Blick wirkt der Umzug wie ein bizarrer Zirkus. Vor allem in Dortmund – einer Stadt, die betont auf dem Boden geblieben ist, weil jahrelang zu viel unter den Teppich gekehrt wurde. Insbesondere, wenn es um Nazis ging. Heute, am vierten Juni, findet hier der bisher größte Naziaufmarsch des Jahres statt: Der „Tag der deutschen Zukunft“. Fast 1.000 Rechtsradikale werden am Ende durch die Stadtteile Dorstfeld und Huckarde laufen.

Artúr van Balen ist Teil der Künstlergruppe Tools for Action. Gemeinsam mit der Stadt wollen sie sich den Nazis kreativ in den Weg stellen. 108 Würfel aus Spiegelfolie haben sie dazu in den letzten Wochen in Workshops an Schulen und im Schauspielhaus gebaut.

Aus der Butterkeksdose

Die meisten Kuben wurden schon am frühen Morgen verliehen, zusammengefaltet in karierten Tragetaschen, sechs Stück pro Tasche. Dazu eine elektrische Luftpumpe und kleine Flicken. Wäre heute keine Demonstration, man könnte die Taschenträger für Stadtguerillas auf Strandurlaub halten. Das Ziel von Artúr und seinen Mitstreitern ist die „BlockaDO“-Gegenveranstaltung am Hafen. Fast 500 Demonstranten treffen sich dort, um auf die Route der Nazis zu gelangen. Für einen Moment gelingt es der Gruppe, der Polizei auszuweichen. Im Laufen ziehen Helfer die ersten Würfel aus den Taschen. Weit kommen sie allerdings nicht. Kurz vor dem Dorstfelder Bahnhof kesselt die Polizei die Nazigegner mit Pfefferspray und Schlagstock ein. Die Barrikade sitzt in der Falle, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Drei Tage zuvor geben Tools for Action im Westfalen-Kolleg ihren letzten Workshop. In der „Cafete“ breiten sie auf großen, massiven Holztischen ihre wichtigsten Materialien aus: Mylar-Isolationsfolie, Klettband, Eddings in dänischen Butterkeksdosen.

Wer Profi ist, hat sich aus Folie einen Werkzeuggürtel gebastelt, mit Taschen für Cutter und Panzertape. Katherine ist eine von ihnen. Zusammen mit Artúr hat sie schon die erste Würfelaktion koordiniert. Das war zur Weltklimakonferenz in Frankreich. Dem Mutterland der Barrikade. Mit den Würfeln wollen die Künstler den Pariser Protesten nun ein Update verpassen. Sie sind angepasst an die globalisierte Welt: aufblasbar, leicht durch die Straßen zu tragen und per Post zu verschicken. Ein mobiler Protest. In Portland, New York und London war die Spiegelmauer schon. Die „Barrikade des 21. Jahrhunderts“ nennt Artúr von Balen das.

Gleichzeitig stärken die Workshops die persönliche Identifikation. Um die Öffnungen der fertigen Würfel haben Schüler mit dicken Filzstiften ihre Namen geschrieben. Die globalisierte Barrikade lebt von ihren Widersprüchen. Ein Wall soll sie ein, eine Mauer auf der Marschroute der Rechtsextremen. Und trotzdem soll sie die Chance lassen, die eigenen Taten zu reflektieren. „Ein Würfelballon hat immer auch etwas Sanftes, Leichtes, Unschuldiges“, sagt Katherine. „Er nimmt dem Protest die Härte.“ In ihren Formationen verzichtet die Künstlergruppe bewusst auf militärische Beschreibungen.

Formation Doppelkürbis

Die einfache Wand heißt „Kürbis“, die gestapelte „Doppelkürbis“. Laufen alle Würfel lose durch den Raum, heißt es auf dem Formationszettel „Spaghetti“. Im Kessel vor dem Dorstfelder Bahnhof will aus den Spaghetti noch kein richtiger Kürbis werden. Weil es ohnehin seit einer halben Stunde nicht weitergeht, entschließen sich Artúr, Katherine und der Brite Dan zum spontanen Aktionstraining. Die Barrikade wird in Richtung Polizei aufgebaut. Wann der Zug weitergehen könne, will Artúr wissen. „Warum steh ich wohl hier?“, gibt ein Polizist schroff zurück. Sekunden später nimmt das Aktionstraining ein jähes Ende: Demonstranten drücken die Barrikade in die Hundertschaft, Spiegelfolie trifft auf Polizeiuniform.

Würfel fliegen durch die Luft und zwischen die Bäume auf der anliegenden Rasenfläche. Mit Schlagstöcken stechen die Polizisten Löcher in die Barrikade und hämmern auf die glitzernden Fetzen ein. Nach wenigen Minuten ist das Schauspiel vorbei. Die Würfel haben die Seite gewechselt. Wie gestürzte Drachen liegen sie hinter den Linien der Polizei. „Die Spiegelwürfel wurden vereinzelt von linksautonomen Gewalttätern als Schutzbewaffnung eingesetzt“, twittert die Polizei Dortmund kurz darauf. Artúr van Balen kann ein wenig Enttäuschung nicht verbergen. Er habe sich mehr Aktionsvermögen erhofft, sagt er. „Wir hätten mehr Glanz machen können.“ Heike, die sich mit ihren Freundinnen morgens eine Tragetasche ausgeliehen hatte, hat zwischen den Bäumen einen kaputten Würfel gefunden und beginnt ihn vorsichtig zu flicken. Entsetzt sei sie über den Polizeieinsatz, und wütend. Weil die letzten Leute, denen der Spiegel vorgehalten worden ist, nicht die Nazis, sondern die Polizisten gewesen sind.

Als der Kessel dann endlich geöffnet wird, sammelt sich die Barrikadengruppe erneut. Dan wartet mit einem Milcheis in der Hand abseits der Polizeiwannen. „Wir mussten uns durchdrücken“, stellt er trocken fest, „wir konnten ja nicht bis zum Scheißmittagessen hier festsitzen.“ Am Nachmittag gelingt es schließlich auch Artúr, ein versöhnliches Ende zu finden. In Huckarde haben einige Studenten ihre Barrikade aufgebaut. Und so kann zumindest noch eine kleine Formation stattfinden. Von 108 Würfeln sind gerade mal 40 geblieben. Am Montag wollen sie die kaputten Reste bei der Polizei abholen. Und dann beginnt für Dan, Katherine und Artúr die Sisyphosarbeit von vorn.

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Geschrieben von

Simon Schaffhöfer

Taugenichts und Pausenclown

Simon Schaffhöfer

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