Ohhh, Kurt Corbyn!

Fans Unser Autor hält den britischen Labour-Chef für einen Rockstar. Und die deutschen Politiker?
Ausgabe 26/2017
Mangel an Alternativen?
Mangel an Alternativen?

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Fangesänge sind eine zweifelhafte Musikgattung. Häufig wildern sie bei alten Gassenhauern und betexten sie neu, mit allem, was in der Welt des Fans wichtig ist: Fußball, Frauen, Alkohol. Ein Thema, das in Fangesängen praktisch nie eine Rolle spielt, ist Politik. Es wäre eine echte Überraschung, sollte sich nachträglich herausstellen, dass So gehen die Gauchos auf die desolaten Arbeitsbedingungen argentinischer Farmer aufmerksam machen sollte.

Umso verwunderlicher daher, dass der Fangesang, der vergangenes Wochenende quer über das Glastonbury-Festival in England gegrölt wurde, keinem Musiker oder Fußballgott galt, sondern Jeremy Corbyn. Gesungen auf die leidgeprüfte Melodie von Seven Nation Army, schallte der Name des Labour-Chefs von der Pyramid-Stage über die Planwagen auf dem Campgelände bis zur Silent Disco. Wenn schon auf einem Floor gesungen wird, auf dem keine Musik läuft, sollte klar sein: Jeremy Corbyn ist der Rockstar von Glastonbury.

Sprung nach Deutschland: Während Corbyn der jubelnden Masse in Glastonbury zuruft, man wolle „Brücken, keine Mauern“ bauen, steigt Martin Schulz mit Sparkassenkrawatte und Bausparmentalität zu Viva la Vida von Coldplay auf die Bühne des SPD-Parteitags in Dortmund. „I used to rule the world“, singt Chris Martin da, und wer auch immer bei den Genossen die Musikauswahl trifft, scheint zumindest Sinn für Humor zu besitzen.

Für eine kurze Zeit dachten wir, Martin Schulz wäre unser Rockstar. Das war vor einem halben Jahr, als der Gottkanzler die Umfragen torpedierte und verkündet wurde, der Schulzzug habe keine Bremsen. Jetzt, drei Monate vor der Bundestagswahl, gleicht der einer verspäteten Regionalbahn mit zerkratzten Fenstern, defekter Klimaanlage und Plastikpinnchen im Mülleimer. Nicht einmal der hartgesottenste Juso könnte sich erträumen, wie Martin Schulz unter Fangesängen bei Rock am Ring von sozialer Gerechtigkeit redet, und anschließend Rammstein ankündigt. Jeremy Corbyn war vor kurzem Titelgesicht der britischen Metal-Bibel Kerrang!. Schulz erwartet man höchstens auf dem ADAC-Mitgliedermagazin.

Klar: Dass Jeremy Corbyn Rockstar-Status genießt, liegt auch an einem Mangel an Alternativen. Der Labour-Chef kämpft gegen eine Premierministerin, die so Rockstar ist wie Tante Fanny auf Melissengeist. Eine Premierministerin, die sagt, das Unanständigste, was sie je gemacht habe, sei, als Kind durch ein Weizenfeld gelaufen zu sein. Angela Merkel würde vielleicht eine ähnliche Antwort geben. Aber sie lässt sich erst gar nicht zu solchen Antworten hinreißen. Stattdessen verkündet sie, im August die Gamescom einzuweihen. „One minute I held the key, next the walls were closed on me“, würde Chris Martin dazu sagen.

Gut möglich also, dass wir den nächsten Rockstar rechts der Mitte finden. Christian Lindner etwa posiert auf Instagram mit Laserschwert und streamt live – zwar nicht aus Glastonbury, aber immerhin von seinem Balkon. Eine junge, deutsche Band als Partner zu finden, dürfte für ihn aber schwierig werden, nachdem Schwarz-Gelb in NRW die Mieten erhöht und die Uni privatisiert hat. Aber vielleicht tritt ja bald Dorothee Bär vor Helene Fischer auf. Oder Markus Söder vor Andreas Gabalier. Das wäre zwar ungefähr so Rock ’n’ Roll wie der betrunkene Onkel, der zu Born in the USA Luftgitarre spielt, um anschließend von seiner erbosten Frau zum Ausnüchtern in den familieneigenen VW-Multivan geschickt zu werden. Aber was erwartet man auch von einem Land, in dem der größte Rocksong Wind of Change ist.

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Geschrieben von

Simon Schaffhöfer

Taugenichts und Pausenclown

Simon Schaffhöfer

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