Bilder von Bildern

Berlinale Aus wenigen Sekunden Filmmaterial wird ein Tag, 30.000 Jahre alte Zeichnungen neu entdeckt in 3D: Die Berlinale zeigt unterschiedliche Wege, mit Found Footage umzugehen

Mehr als 400 Filme umfasst das Programm der Berlinale, die mit rund 300.000 verkauften Eintrittskarten eines der größten Publikumsfestivals der Welt ist. In der visuellen Kultur der Gegenwart mag das Kino als Zentrum des Bildes längst ausgedient haben; im Kontext eines großen Festivals kann es sich zumindest aufmerksamkeitsökonomisch noch einmal als primus inter pares fühlen.

Die meisten Festivalfilme sinken nach dem Event wieder in eine nicht immer unverdiente Unsichtbarkeit zurück. Man begegnet aber auch Arbeiten, die die diffuse Ereignishaftigkeit nutzen, um das Kino zur Omnipräsenz des Visuellen klug zu positionieren. Ein Genrebegriff aus der Experimentalfilmtradition für diese Verhältnisbestimmung lautet found footage. Gemeint sind Bilder, die in Archiven „gefunden“ werden und unter den konzentrierten Wahrnehmungsbedingungen des Kino-Dispositivs einem „zweiten Blick“ zuführbar sein sollen. Im Zeitalter von YouTube liegt darin eine kritische Ressource des vergleichsweise schwerfälligen Mediums: die „letzte Maschine“ (Hollis Frampton) als Instanz von Beobachtungen zweiter Ordnung, als Nachhut der Bilder.

Ein gutes Beispiel für diese nacharbeitende Bezugnahme auf bereits existierendes Bildmaterial ist Into thin Air von Mohammadreza Farzad, der in der Nebenreihe Forum expanded zu sehen ist. Den Ausgangspunkt bildet eine Minute dokumentarisches Filmmaterials, das am 8. September 1978 in der Teheraner Innenstadt gedreht wurde. Der Schah hatte das Kriegsrecht und ein Demonstrationsverbot ausgerufen. Auf dem Jaleh-Platz schießen die Soldaten erst in die Luft, dann in die Menge. Am Ende stehen 64 Tote, der Tag geht als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte der Islamischen Revolution ein.

Spuren alter Wünsche

Insistierend tastet Farzad das Material filmisch ab, hält es an, vergrößert Ausschnitte. Strukturell ähnlich wie in Ken Jacobs’ Klassiker Tom, Tom, the Piper’s Son (1969) geht es bei der Wiedervorlage um die Präparierung von Details, die in der Realzeit der Bewegung der Aufmerksamkeit entgehen. Ein Massaker entsteht aus einer Vielzahl einzelner Handlungen, setzt sich zusammen aus zahlreichen individuellen Entscheidungen, deren kollektive Dynamik sich oft nicht exakt rekonstruieren lässt.

Wird es einst den entsprechenden Film für die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz von Kairo geben? Geht das überhaupt, wenn die historische Überlieferung nicht aus wenigen Sekunden Film, sondern aus unzähligen Stunden ­Handykamera-Material besteht? Das hermeneutische Eindringen in wenige exklusive Bilder müsste vermutlich ersetzt werden durch eine Montage multiperspektivischer Wahrnehmungsstandpunkte auf das Gelingen einer Revolution.

Wenn Bilder auf Bilder zugreifen, um sie neu und anders zu öffnen, kommt es auf den Abstand an. Darum geht es in Werner Herzogs tollem 3D-Film Cave of Forgotten Dreams. Die ältesten Zeichnungen der Welt treten ­einem hier plastisch entgegen, eine ­Begegnung zwischen zwei Bildtechnologien, die mehr als 30.000 Jahre trennt. Herzog ­erkundet die dreidimensionale Raumleinwand der Chauvet-Höhle wie ein Bildanthropologe. Deshalb erkennt er in altsteinzeitlichen Praktiken des Überzeichnens proto-kinematografische Phasenbilder und findet Spuren eines alten Wunsches: des Verstehens des Menschen und seiner Geschichte im Medium bewegter Bilder.

Simon Rothöhler ist Mitherausgeber von Cargo und twittert während der Berlinale unter

cargo-film.de

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