Der Pionierarbeiter

63. Berlinale Die Berlinale würdigt mit Claude Lanzmann einen engagierten Filmemacher – und vergibt sich dabei eine Chance

Vor elf Jahren lief zuletzt ein Film von Claude Lanzmann im regulären Programm der Berlinale, die ihm dieses Jahr den Goldenen Ehrenbären für das Lebenswerk verleiht. Der 2002 uraufgeführte Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr war nach Shoah (1985) und Ein Lebender geht vorbei (1997) bereits das dritte Montage-Destillat aus jenen rund 220 Stunden Filmmaterial, die Lanzmann in zwölf oft mühsamen Recherche- und Drehjahren angesammelt hatte.

Bis heute bildet dieses Archiv ein Quellen-Reservoir, das seinesgleichen sucht. Vor jeder Würdigung des Filmemachers muss deshalb die Anerkennung für Lanzmanns genuin historiografische Pionierleistungen stehen. Als er in den siebziger Jahren seine Recherchereisen aufnahm, bestand die Holocaust-Forschung im Wesentlichen aus einer relativ isolierten Professur in Burlington, Vermont. Lehrstuhlinhaber war der 2007 verstorbene Raul Hilberg, der auch der einzige professionelle Historiker ist, der in Shoah auftritt. Es ist eine der vielen eindrücklichen Szenen dieses Films, wenn Hilberg aus dem Tagebuch von Adam Czerniaków liest, dem Vorsitzenden des „Judenrats“ des Warschauer Ghettos.

Aus heutiger Sicht zeigt sich deutlich, dass Lanzmann seinen Materialbestand mit Shoah nicht erschöpfend ausgedeutet hatte. Sein Archiv scheint immer noch einen weiteren Film, eine zusätzliche Perspektive zu enthalten. Shoah ist auch in diesem Sinn ein offenes Kunstwerk, das sich in den Folgejahren weiter ausdifferenzieren sollte – in der Beschäftigung mit jüdischem Heroismus und Widerstand (Sobibor) oder mit der historischen Rolle herausgehobener Protagonisten wie dem polnischen Kurier Jan Karski, der Roosevelt im Juli 1943 über die Judenvernichtung informierte (Der Karski-Bericht, 2010).

Es ist unverständlich, dass die Berlinale die Gelegenheit nicht nutzt, um jüngere Verzweigungen dieses Werks im Rahmen der Hommage öffentlich sichtbar und diskutierbar zu machen. Bereits 2007 waren im Österreichischen Filmmuseum Lanzmanns Gespräche mit dem umstrittenen Wiener Rabbiner und „Judenältesten“ von Theresienstadt Benjamin Murmelstein zu sehen gewesen, und letztes Jahr zirkulierte weiteres hochinteressantes Material unter dem Titel Shoah – The Unseen Interviews durch die Filmarchivclubs amerikanischer Universitäten.

Ein aktuelles Werk

Im Unterschied zu Sobibor und Der Karski-Bericht handelt es sich bei den Murmelstein-Outtakes und The Unseen Interviews zwar nicht im engeren Sinn um Regiearbeiten Lanzmanns. Die Kompilationen sind aber in mehrfacher Hinsicht wichtige Stellvertreter und Teaser, die auf die neue mediale Existenzform und Verfügbarkeit des ursprünglich nicht integrierten Materials verweisen.

Lanzmann hatte sich 1993 entschieden, die Outtakes dem neu gegründeten United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington zu übergeben, das sich, finanziell unterstützt durch Steven Spielberg, früh auf die Archivierung filmisch-fotografischer Zeugnisse der Shoah spezialisieren konnte. Lanzmann wollte schon damals, dass das Filmmaterial konserviert wird und perspektivisch auch jenseits des Kinos Sichtbarkeit erhält.

Die Aktualität von Lanzmanns Werk – memorialkulturell, in Bezug auf die Koordinaten gegenwärtiger Erinnerungspolitik, aber eben auch im Hinblick auf die mediale Zirkulation von Holocaust-Zeugnissen – lässt sich nur dann sinnvoll diskutieren, wenn diese späten Shoah-Auskoppelungen berücksichtigt werden. Müsste nicht das Ziel einer Hommage sein, den aktuellen „Werkstand“ zugänglich zu machen, statt nur Kanonisierung zu betreiben?

Dass Lanzmann selbst nicht ausschließlich an (werk-)biografischer Konsolidierung interessiert ist, scheint offensichtlich. 2010 erschien zwar die deutsche Übersetzung seiner Autobiografie Der patagonische Hase, die nicht in jeder Passage frei ist von einem gewissen Zug ins Selbstgefällige. Zugleich aber ist Lanzmann, der seit 1986 als Herausgeber der Zeitschrift Les Temps Modernes fungiert, immer noch äußerst engagiert und interventionsfreudig, was sich in einer ganzen Reihe öffentlich ausgetragener Debatten niedergeschlagen hat.

Eine intensive, schließlich sogar juristische Auseinandersetzung führte Lanzmann etwa mit dem israelischen Filmemacher und Anti-Zionisten Eyal Sivan, in dessen Film Route 181 (2002, gemeinsam mit Michel Khleifi) er ein instrumentelles „Plagiat“ erkannte. Dort gibt es eine Szene mit einem palästinensischen Friseur, der von einem Massaker in Lod während des Unabhängigkeitskrieges 1948 berichtet, das israelische Soldaten an der palästinensischen Bevölkerung verübt hatten. Lanzmann und Fürsprecher wie Alain Finkielkraut sahen hier wie auch in Einstellungen, die Eisenbahngleise in Lod zeigen, eine unzulässige, revisionistisch motivierte Analogie mit Shoah-Motiven am Werk.

Mit dem Kunsttheoretiker Georges Didi-Huberman ging Lanzmann noch einmal die kontroverse Frage nach der „Bildlosigkeit“ und „Undarstellbarkeit“ des Holocaust durch. Auslöser war Didi-Hubermans Studie Bilder trotz allem (2007), in der vier Auschwitz-Fotografien – heimlich angefertigt von einem Mitglied des „Sonderkommandos“ – einer detaillierten Lektüre unterzogen werden.

Wie auch immer man zu Lanzmanns stets apodiktisch vorgetragenen Positionen stehen mag: Die Insistenz, mit der er den Streit als öffentliche Angelegenheit begreift, die polemische Energie, die er immer wieder zu investieren bereit ist, sind integraler Bestandteil seines Werks. Die Berlinale ehrt eine multiple Begabung: einen Filmemacher, der zugleich Historiker, Journalist, Diskursmaschine ist.

Simon Rothöhler ist Mitherausgeber von Cargo und promovierte über „Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart“

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