Im Jahr 2002 lief im Forum der Berlinale ein Film, den man rückblickend als Meilenstein des digitalen Kinos bezeichnen kann: Wang Bings neunstündige Dokumentation Tiexi Qu – West of the Tracks (2001). In langen Einstellungen hält die DV-Kamera darin einen epochalen Transformationsprozess fest: die Abwicklung der chinesischen Schwerindustrie in der Provinzhauptstadt Shengyang. Ein Endspiel der Arbeit ohne utopischen Horizont. Die riesigen Stahlhütten, Kupfer- und Zinkgießereien sind im Zustand unvollständiger Demontage zu Ruinen erstarrt. Vor den letzten Hochöfen, die noch in Betrieb sind, verrichten Arbeiter ohne Schutzkleidung ihre Schicht; in klaustrophobischen Pausen- und Duschräumen finden sie keine Erholung.
Vier Stunden auf dem Land
Auch in diesem Jahr sind die außergewöhnlichsten Filme des Festivals zeitintensive dokumentarische Arbeiten, die sich grundlegend dem digitalen Technologiewechsel verdanken. Zwei Jahre lang hat sich der Journalist Cong Feng in der Landarztpraxis von Dr. Ma aufgehalten, die im Kreis Gulang, in einer nördlichen Gebirgsregion Chinas liegt. Mit einer kleinen DV-Kamera in der Hand stand Cong Feng die meiste Zeit in einer Ecke der beengten Praxis und beobachtete die Patienten und ihre Gespräche. Weil die Ambulanz Behandlungszimmer, Warteraum und Apotheke zugleich ist, bildet sie eine Art Kommunikationszentrum der Region. Vier Stunden lang zeigt Doctor Ma’s Country Clinic die veramte chinesische Landbevölkerung beim beiläufigen und kaum gefilterten Sprechen über die prekären Lebensbedingungen und die Korrumpierbarkeit des Systems.
Die beiden Filme verhalten sich komplementär zueinander. Gemeinsam ergeben sie einen bemerkenswerten Einblick in das Leben der chinesischen Unterschicht – in den pauperisierten urbanen Räumen und in der vom Boom entkoppelten Provinz, die aber dennoch den landesweit zunehmenden Migrationsdruck zu spüren bekommt. Die apokalyptisch leeren Fabrikräume in Shengyang und die Praxis-Öffentlichkeit von Dr. Ma zeigen die Kehrseite der offiziellen Fortschrittserzählung eines Landes, das seit dem forcierten Eintritt in den Weltmarkt Anfang der 1990er Jahre bevorzugt Wachstumserfolge verlautbaren lässt.
Die Digitalkamera macht es möglich
Die inoffiziellen Bilder und Geschichten von Wang Bing und Cong Feng sind herausragend informative Beispiele für die Potentiale eines mobilen digitalen Filmemachens, das ohne großen Produktionsapparat investigativ wird. Beide Arbeiten zeigen aber auch, dass es gerade dabei auf die intellektuelle Qualität der Montage ankommt, also doch wieder auf die Kapazitäten eines Autors, das registrierte Material nachträglich zu formen. Geduldiges Aufzeichnen allein reicht nicht.
Die Qualität der Filme resultiert nicht zuletzt aus den Möglichkeiten der Digitalkamera, als flexibles Wahrnehmungsmedium zu fungieren. Bei Cong Feng kann man immer wieder beobachten, wie er mit der Kamera auf neue Situationen und Gesichter reagiert, ohne den ästhetischen und gedanklichen Zwischenschritt einer filmischen Inszenierung zu benötigen. Das bedeutet aber nicht, einer naiven Idee von Unmittelbarkeit das Wort zu reden, die es ohnehin nicht geben kann, weil die Anwesenheit der Kamera Situationen immer auch mitproduziert. Beide Filme investieren in diesem Sinn „ästhetische“ Ideen: die Plansequenzen bei Wang Bing, die erzählerische Verknüpfung der individuellen Geschichten bei Cong Feng.
Entscheidend ist die egalitäre Aufmerksamkeit, die mit der DV-Kamera möglich wird. Ohne auf Materialkosten Rücksicht nehmen zu müssen, lassen sich hier Nebensächlichkeiten so lange aufzeichnen, bis deren geteiltes Narrativ sichtbar wird. Derart pragmatisch schafft sie die Voraussetzung dafür, subkutane Hauptsachen zu destillieren, die ansonsten filmisch nicht wahrgenommen würden. Entlegene Räume und Zusammenhänge erhalten so eine neue Chance, mitteilbar zu werden. Die digitale Revolution findet an der Peripherie des Weltkinos statt, wo Filmemacher wie Wang Bing und Cong Feng, jahrelange Recherchen betreiben können, während die Kamera schon läuft.
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