Ein Skaterfilm, der nicht in der Halfpipe, sondern mit einer zögerlichen Schreibbewegung beginnt. Die ersten Bilder nach der Titelsequenz zeigen eine junge Hand, die einen Bleistift über liniertes Papier führt und darin Halt sucht. Von diesem Moment des Aufschreibens aus entwirft Gus Van Sants aktueller Film Paranoid Park in verschachtelten Rückblenden eine Geschichte, in deren Zentrum ein Ich steht, das seine eigene Perspektive auf die Welt noch nicht in eine Form gebracht hat.
Paranoid Park spielt in der Heimatstadt des Regisseurs, im Pazifischen Nordwesten der USA, in Portland, Oregon, und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Blake Nelson. Das Casting der jugendlichen Laienschauspieler wurde altersgemäß über die Internetplattform MySpace organisiert. Angeblich meldeten sich rund 3.000 Teenager aus Portland und Umgebung, unter ihnen der 16-jährige Skateboarder Gabe Nevin, dem die Hand gehört, die den Film eröffnet.
Nevin spielt Alex, einen zart und apathisch wirkenden Jungen aus einer Mittelschicht-Familie. Die Eltern lassen sich gerade scheiden und verbergen das Desinteresse an ihrem Sohn hinter einem verständnisvollen Grundton. Auch die High School verbreitet kaum repressive Durchsagen. Die Institution taugt nicht zum Feind, sie will noch nicht einmal erziehen. Dennoch erscheint das Erwachsenwerden melancholisch blockiert. Paranoid Park entwirft einen eigentümlich zeitenthobenen Adoleszenzzusammenhang, in dem jede Vorstellung von "Entwicklung" gleichsam suspendiert wirkt. Das Coming of Age verliert sich in der Wiederholung identischer Erfahrungsmuster. Teil einer Jugendbewegung zu sein, bietet hier nur bedingt offene Horizonte.
Alex ist nicht das Produkt eines Problemmilieus, sondern hat die ihn umgebende Indifferenz lediglich vollständiger als andere verinnerlicht. Die Welt des Skateparks und seine Zeichen der Illegalität ziehen ihn diffus an, halten aber auch das Grundgefühl fehlender Zugehörigkeit aufrecht. Mit den prekären Biographien der "echten" Skater hat seine wenig zu tun. Eher zufällig wird Alex auf dem nahe gelegenen Rangierbahnhof in eine Auseinandersetzung mit einem Wachmann verwickelt, die einen tödlichen Unfall zur Folge hat. Seine schuldhafte Verstrickung begreift Alex nur unvollständig. Die Distanz, die ihn von der Welt trennt, lässt sich auch durch den plötzlichen und massiven Einbruch körperlicher Zerstörung nicht überwinden.
Zu den Besonderheiten von Paranoid Park zählt, wie der Film darauf verzichtet, die im Modell "Laienschauspieler" gewöhnlich enthaltenen Authentizitätssignale als dramatischen Mehrwert umzusetzen. Larry Clark, dem anderen Teenager-Chronisten des amerikanischen Independent-Kinos, gelingt es immer wieder, den semidokumentarischen Ansatz spezifisch zu machen (zuletzt in Wassup Rockers, einem Latino-Punk-Skaterfilm, in dem es Beverly Hills mit South Central zu tun bekommt). Gus Van Sant geht gewissermaßen umgekehrt vor: Er dringt in adoleszente Codes und Räume ein, um sie von innen heraus fremd erscheinen zu lassen.
Paranoid Park ist weder an der moralischen Dimension der Schuldfabel noch an einer Skater-Subjektive im psychologischen oder soziologischen Sinn interessiert, obwohl die Dramaturgie des Films als Mosaik subjektiver Rückblenden konstruiert ist. Van Sant geht es eher um die expressive und äußerliche Seite jugendkultureller Systeme, um Texturen nicht um Milieus. Die dichten Klanglandschaften des Films fungieren dabei als dissonantes Register, das nicht nur Beethoven auf Elliot Smith und Ethan Rose schichtet, sondern auch etwas mutwillig filmhistorische Brücken zu Nino Rotas Score für Fellinis Julia und die Geister schlägt.
Überhaupt wirkt Paranoid Park vollständig durchkomponiert, weniger durchlässig als Van Sants vorhergehende Arbeiten. Die hermetische ästhetische Signatur des Films mag auf den ersten Blick als Hinweis auf einen neuen popkulturellen Spätmanierismus gelten. Andererseits scheint Van Sant seine bevorzugten Stilmittel wie die diskreten Zeitschleifen und die elegisch-sanften Bildverlangsamungen eher weiter verfeinert und ausdifferenziert zu haben, als sie bloß zu wiederholen oder zu verwalten. Durch die Geschlossenheit der Form entsteht in jedem Fall eine durchgehaltene Distanz zu den gezeigten Figuren und Ereignissen.
Im Unterschied zu Elephant verfügt Paranoid Park zwar nicht über die transparente Komplexität, die sich dort ergibt aus der Bezugnahme auf die weit zirkulierten Medienbilder eines zeitgeschichtlichen Ereignisses, dem Massaker an der Columbine High School in Littleton. Dennoch werden die Oberflächen und Gesten der Skaterwelt nicht nur in referenzlose Schauwerte verwandelt. Immer wieder inszeniert Paranoid Park seine eigenen Bilder, die die Bewegungen der Teenager feierlich überhöhen, offen als Produkte eines teilnehmenden Blicks. Dass dieser sich nicht wieder ins Erzählerische rückübersetzt, markiert vielleicht die innere Grenze einer zugegebenermaßen elaborierten Ästhetik auratischer Entrückung.
Allgemein gilt Gus Van Sants Werk als strikt zweigeteilt. Neben mehr (Good Will Hunting) oder weniger (Finding Forrester) plausiblem Mainstream, stehen veritable Autorenfilme, denen der Regisseur seinen Ruf als Vertreter eines amerikanischen Weltkinos verdankt. Die letzten Arbeiten - Gerry, Elephant und Last Days - waren durch einen Low-Budget-Deal mit dem Pay-TV-Major HBO entstanden: drei mal drei Millionen US-Dollar Budget bei jeweils 18 Drehtagen. Paranoid Park ist hingegen eine französische Produktion, realisiert durch MK2. Fernsehen oder Europa - die amerikanische Filmindustrie scheint kaum noch Mittel für unabhängige Produktionen jenseits von Sundance bereit zu halten.
Am Ende brennt Papier. Alex zündet seine Aufzeichnungen, die den Rückblenden des Films entsprechen, in dem Moment an, als sie seine Gegenwart zu berühren beginnen. Über die ist nichts zu schreiben, jetzt kann man wieder zur Schule gehen. Einen wirklichen Adressaten hatten die Notizen ohnehin nicht, das Ich des Autors machen sie nicht transparent.
Der Film endet ohne Aufklärung, im Unbestimmten. Übrig bleiben die fluiden Kamerabilder der in ihren Bewegungen versunkenen Skater, die, zum Teil auf grobkörnigem Super8-Material gedreht, wie autonome Inseln den ganzen Film durchziehen. Alex kommt in ihnen nicht vor. Sie führen auch nicht in das Mentalitätszentrum einer Generation, bleiben für den Zuschauer aber dennoch nachvollziehbar - ästhetisch, als Bewegungen. Und sie berühren, weil Alex´ Erfahrungsarmut in ihnen aufgehoben ist.
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