Nichts bleibt zu gewinnen

Kino Eine minimalistische Geschichte in einem kleinen Film: Die amerikanische Independent-Regisseurin Kelly Reichardt erzählt in "Wendy & Lucy" aus intimer Distanz

Eine minimalistische Geschichte: eine junge Frau, ein Hund, ein Auto. Wendy heißt die Frau (Michelle Williams), sie ist unterwegs nach Alaska, auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit, aber auch vor etwas, das der Film nicht benennt. Lucy ist der Name des Hundes, der abhanden kommt, als Wendy vorübergehend festgenommen wird, weil sie in einem Supermarkt eine Dose Hundefutter mitgehen ließ. Das Auto, ein alter Honda, in dem Wendy und Lucy leben, hat schon vorher den Geist aufgegeben und befindet sich in einer Werkstatt, deren Reparaturdienste sich Wendy eigentlich nicht leisten kann. Der Verlust des Autos ist gleichbedeutend mit der Aussetzung jeder Option, dem Leben allein durch Bewegung eine Richtung, eine Perspektive vorzutäuschen.

Wendy Lucy ist der dritte Film der amerikanischen Independent-Regisseurin Kelly Reichardt. Auch der sehr schöne Vorgänger Old Joy hatte dank des Berliner Peripherfilm-Kollektivs einen kleinen Kinostart, was erwähnenswert ist, weil es praktisch nicht mehr vorkommt, dass der Verleihkalender an den Rändern des Kinos Werkkontinuitäten nachvollziehbar macht.

Gleich zu Beginn des Films gibt es eine Plansequenz: Die Kamera begleitet Wendy und Lucy in einer Parallelfahrt bei einem unbeschwerten Gang durch den Wald. Die Kamera hält dabei Distanz zu beiden Protagonisten, während auf der Tonspur eine kleine Melodie gesummt wird, die im Verlauf des Films leitmotivisch auftaucht und immer ganz nah klingt. Mit ähnlichen Konfigurationen der Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe arbeitet Reichardt immer wieder. Sie konstruiert Intimität, entzieht sie aber in derselben Bewegung, macht sie als Geste sichtbar, die ambivalent bleibt.

Man erfährt kaum etwas über die Vorgeschichte der jungen Frau, die eine erschöpfte Schwester der Figur Rosetta aus dem gleichnamigen Film der Brüder Dardenne sein könnte, nur ohne deren Wut, ohne Signale einer zumindest körperlichen Revolte gegen die Exklusion. Dass der soziale Raum kaum noch geteilte Handlungshorizonte bietet und Prozesse der Entsolidarisierung weit vorangeschritten sind, macht Wendy Lucy dennoch sichtbar. Ein alter Security-Mann (Walter Dalton), der augenscheinlich längst in Rente sein müsste und als einziger Empathie zeigt, spricht es an einer Stelle des Films aus: Hier gibt es keine Arbeit, keine Zukunft, die Leute bleiben mit der deprimierenden Aufgabe zurück, die verbliebene Zeit totzuschlagen.

Kelly Reichardts Filme haben einen bescheidenen Tonfall, den man nicht für eine – politische, diagnostische – Limitierung halten sollte. Den sozialen Verwerfungen in der amerikanischen Provinz ist Wendy Lucy auf der Spur, ohne thesenhaft vom Ist-Zustand des Kapitalismus oder ähnlichem zu sprechen. Im Vergleich zu Old Joy wird noch deutlicher, dass Reichardt an ästhetischen Fragen interessiert ist: an der Genauigkeit des Schnitts, der Konstruktion filmischer Räume mit wenigen Einstellungen, an Strategien eines „fotografischen“ Insistierens. Manchmal übersetzt sich dieses Interesse in nichts und produziert eine fast schon wieder forciert und hermetisch wirkende Zartheit. Vielleicht auch deshalb endet der Film mit einer Bewegung ins Offene, die nur ein vages Ziel hat und nicht nach Freiheit aussieht.


Wendy & Lucy ab Donnerstag nur in zwei Berliner Kinos. Später Seefeld, Leipzig, Münster, Köln. Termine unter peripherfilm.de

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