Unter Fußballkennern gilt als gesichert, dass die besten Nationalmannschaften den besten europäischen Klubteams sportlich nicht das Wasser reichen können. Wer sich über den Stand der Dinge im Spitzenfußball informieren möchte, erfährt an einem gewöhnlichen Spieltag der derzeit einigermaßen konkurrenzlosen englischen Premiere League mehr, als während des gesamten Verlaufs der Europameisterschaft.
Abgesehen davon, dass beispielsweise die famosen Gruppenspiele der Niederländer diese Hierarchisierung zumindest irritiert haben dürften, markieren die Großturniere immer noch den avanciertesten televisuellen Standard. Der mediale Aufwand ist hier auf jeder Produktionsebene enorm. So wird das an alle übertragenden Fernsehanstalten weitergegebene "Weltbild" aus bis zu 30 Kameras generiert. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die perspektivische Vielfalt auch den Kopfschutz von Peter Cech erreicht haben wird - die Angst des Tormanns beim Elfmeter als Point-of-View-Shot.
Die Begeisterung über die Vermehrung technischer Möglichkeiten hält sich jedoch aus verschiedenen Gründen in Grenzen. Schuld daran ist vor allem die UMET. Die UMET (UEFA Media Technologies SA) ist eine Tochterfirma der UEFA und produziert im Auftrag des Veranstalters und somit ohne sportjournalistischen Filter das Weltbild. ARD und ZDF verfügen zusätzlich über bis zu drei eigene Kameras, die vornehmlich auf die deutsche Ersatzbank und Haupttribünen-Segmente, die sich in deutscher Hand befinden, gerichtet sind.
Das Weltbild interessiert sich nämlich herzlich wenig für Angela Merkel, Boris Becker oder Sarah Brandner. Sind die genannten Edelfans im Bild, bedeutet das in der Regel, dass ARD und ZDF aus dem Weltbild gesprungen sind. Die Renationalisierungsoptionen beschränken sich auf Ereignisse außerhalb des eigentlichen Sportgeschehens, von dem es gerade kein länderspezifisches Bild, kein "Nationalbild" gibt.
Das Bild, das die Welt sich dieser Tage vom Fußball macht, basiert genau genommen auf Montageentscheidungen, die von Spitzenkräften wie dem so genannten Match Director Knut Fleischmann unter Live-Bedingungen getroffen werden müssen. Das internationale Autorenkollektiv der laufenden Europameisterschaft besteht aus nur fünf Regisseuren, die für sämtliche Spiele verantwortlich zeichnen und gewissermaßen an einem riesigen Omnibusfilm arbeiten. Weil die Weltregisseure aber auf Geheiß der UEFA keine Aufnahmen randalierender Fans ins Weltbild lassen und weil die UEFA nicht nur bei Fußballpuristen als korrupte und Kommerz versessene Institution gilt, war in diesem Zusammenhang zuletzt von Zensur die Rede.
Eine andere Spielart der zwischenzeitlich laut gewordenen Inszenierungskritik richtet sich demgegenüber auf die ästhetischen Standards der UMET. Viele Vorwürfe klingen dabei wie Echos der klassischen Ideologiekritik am Hollywoodkino: Zu wenig Raumintegrität, zu hohe Schnittfrequenz, zu viele Nahaufnahmen nebst Hegemonie des Star-Bildes und autoritärer Lenkung des Zuschauerblicks.
Die Inszenierungskritiker fordern im Grunde, dass das Weltbild eher wie das aktuelle Weltkino - die Filme von Regisseuren wie Abbas Kiarostami oder Lav Diaz sind gemeint - sein sollte: Reduzierte Montage, distanzierte Plansequenzen, egalitär gesinnter Ensemblefilm mit Laiendarstellern statt Politik des Stars. Es geht um eine Ästhetik, die an raum-zeitlicher Kontinuität interessiert ist und das Vorgefundene nicht zu stark transformiert.
Die Grenzen dieser Analogie verweisen auf die einseitige Medienskepsis der Inszenierungskritiker. Sie träumen von einer Annährung zwischen der Wahrnehmungssituation im Stadion und den Darstellungskonventionen, die das Sportereignis in ein Fernseh-Event überführen. Die Weltbild-Regie kann aber nicht reinen Experten-Interessen folgen, indem sie beispielsweise das Verhalten der Viererkette beim Angriff des eigenen Teams zeigt, sondern muss nach einer objektiveren Auflösung des Spiels suchen. Die analytische Montage hat nicht nur die schwierige Aufgabe, die komplexen Raumkonstellationen eines modernen Fußballspiels sinnvoll aufzulösen, sondern soll auch die emotionalen Gehalte des Spiels kommunizierbar machen.
Wenn das Weltbild vor einem Freistoß den perfekt lackierten und irgendwie Jeff Koons-artigen Schuh von Cristiano Ronaldo in einem extremen Close-Up zeigt, verkennt die Empörung des Experten über das ihm momentan vorenthaltene Strafraumgetümmel zumindest eine Ausdrucksqualität dieser Großaufnahme. In ihr artikuliert sich nicht nur der Manierismus einer ästhetisch rückständigen UMET-Mafia, sondern auch das in jedem Fan arbeitende Begehren, den Geheimnissen genialer Ballberührungen auf die Spur zu kommen. Objektiv an dieser Einstellung ist der Affekt, für den der Weltregisseur versucht, ein Bild zu finden. Ein Fetischbild gewiss, aber auch: ein Bild für die fußballbegeisterte Welt.
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