Der Putsch vor dem Putsch

Türkei Der erste Putsch in der Türkei nach 1980 wurde von Recep Tayyip Erdoğan angezettelt. Denn eigentlich dürfte er gar nicht Staatspräsident sein

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Böhmermann lässt grüßen: Recep Tayyip Erdoğan
Böhmermann lässt grüßen: Recep Tayyip Erdoğan

Bild: Chris McGrath/Getty Images

Es gehört schon gerüttelt Maß an Heuchelei und Charakterlosigkeit dazu, angesichts des versuchten Militärputsches, die „Demokratie“ in der Türkei, und damit indirekt, den Präsidenten der Türkei als Demokraten zu hofieren.

Recep Tayyip Erdoğan schafft die Demokratie in der Türkei seit Jahren ab. Jetzt hat er es geschafft. Er hat sich schleichend an die Macht geputscht und sieht nun seine Chance, die Türkei in eine Diktatur zu verwandeln. Ob er demokratisch gewählt wurde, ist irrelevant.

Seine Methoden zur Säuberung des Militärs und der Justiz erinnern frappierend an die Methoden, die die Militärregierung nach dem Putsch von 1980 angewandt hat: Massenverhaftungen, schnelle Verhandlungen und Todesurteile. Das ist die Richtung, in die ein Land unter einem Diktator geht. Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Trennung von Staat und Religion hatte Erdoğan ja de facto bereits vorher abgeschafft. Nach dem Putsch vom Freitag und Samstag steht seiner Vision eines islamischen Staates in Europa nichts mehr entgegen.

Die Dystopie wird Realität: in den Straßen werden vermutete Putschbefürworter von Zivilisten angegriffen und entwaffnete Putschisten gemeuchelt. „Hängt sie auf!“, das ist die Stimmung eines Lynchmobs. Die Todesstrafe wird bereits gefordert und von Politikern diskutiert. Das ist nicht der Triumph der Demokratie, das ist der Niedergang der Demokratie in der Türkei.

Es führt zu der Staatsform, die Recep Tayyip Erdoğan immer wollte. Er war nie zimperlich, wenn es darum ging, Gesetze und Urteile zu ignorieren oder zu ändern, wenn es nur seiner Macht diente. Im April 1998 wurde er zu zehn Monaten Gefängnis und einem lebenslangen Politikverbot verurteilt, weil, und das ist eine Ironie der Geschichte, er aus einem Gedicht zitiert hat. Böhmermann lässt grüßen.

Erst durch eine Verfassungsänderung nach dem Wahlsieg der AKP 2002 konnte Erdoğan überhaupt als Abgeordneter ins türkische Parlament einziehen und damit 2003 zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Das war der Putsch. Es war der Anfang des Weges zu dem, was wir jetzt sehen: die Rückkehr zu einem Regime, in letzter Konsequenz die Rückkehr zu einem Kalifat.

Dies dürfte das prominenteste Zitat Recep Tayyip Erdoğans sein, und es ist auch das Zitat, welches ihm zehn Monate Haft wegen Volksverhetzung eingebrockt hat: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ (http://www.welt.de/print-welt/article341831/Reformer-oder-Wolf-im-Schafspelz.html)

Die Türkei, in der solche Ideologien als Volksverhetzung galten, gibt es nicht mehr. Erdoğan hat sie bereits abgeschafft. Die Annäherung an Europa, die Demokratisierung, die Hinwendung zum Westen waren Schritte in seinem Plan, aus der Türkei einen Gottesstaat zu formen. Recep Tayyip Erdoğan ist ein Islamist. Das hatte das Militär erkannt, zumindest die Kemalisten und laizistische Volksgruppen, wie die Kurden. Beide stehen für die laizistische Türkei, die Kemal Atatürk im Sinn hatte.

Diese Türkei wurde von den Glaubensbrüdern Recep Tayyip Erdoğans durchsetzt, nicht umgekehrt, wie Erdoğan Glauben machen will. Daher rührt auch das völkerrechtswidrige Vorgehen Erdoğans gegen die Kurden.

Die „Säuberungen“ von Militär, Justiz und Verwaltung, aber nicht zuletzt die Säuberung des türkischen Volkes an sich, welche in der Türkei nach Vorbild der Militärputsche der vergangenen Jahrzehnte gerade stattfinden, sind keine Reaktion auf den Putsch vom Freitag und Samstag.

Die Verhaftung von fast 9.000 Personen ist ohne Vorbereitung innerhalb von 48 Stunden gar nicht realisierbar. Diese „Säuberungen“ hätten so oder so stattgefunden. Vielleicht war der Putsch vom Freitag und Samstag die letzte Option, die Türkei vor Schlimmerem zu bewahren. Vielleicht nicht. Aber die türkische Demokratie wurde bereits vor 15 Jahren abgeschafft: endgültig, wie es scheint.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden