Die hässliche Seite des Brexits

Gesellschaft Der Brexit hat nicht nur wirtschaftliche Konsequenzen: Er legitimiert Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Und er offenbart die gesellschaftliche Spaltung Großbritanniens

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Ein vorhersehbares Drama

Die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen des Referendums waren so drastisch wie vorhersehbar: Das Pfund hat circa zehn Prozent an Wert verloren, die Börsenkurse vieler Unternehmen sind eingebrochen. Was die Entscheidung der Briten wirtschaftlich mittelfristig und langfristig bedeutet, ist wohl noch gar nicht abzusehen. Wie auch bei der Finanzkrise ab 2007 sind die internationalen Verflechtungen der Wirtschaft und im besonderen des Finanzsektors teilweise unbekannt. Das dürfte die Prognosen nicht optimistischer ausfallen lassen.

Die Einschätzung der politischen Konsequenzen ist bisher allenfalls vage. Zum einen im Hinblick auf das Vereinigte Königreich selbst, zum anderen im Hinblick auf die EU. Aber auch hier ist die Prognose nicht besonders positiv: David Cameron hat seinen Rücktritt angekündigt, Boris Johnsons Kandidatur als Premierminister hat Michael Gove durch die Ankündigung seiner eigenen Kandidatur verhindert, Gove wird jetzt aber auch nicht kandidieren und zuletzt ist noch Nigel Farage als Vorsitzender der Ukip zurück getreten. Als wäre das nicht genug, zerlegt sich die Labour Party derweil selbst: Drei Viertel der Labour Fraktion haben Jeremy Corbyn, dem Parteivorsitzenden, das Misstrauen ausgesprochen und zwei Drittel seines Schattenkabinetts sind zurückgetreten.

Auf der Seite der Befürworter des EU-Austritts entziehen sich die Verantwortlichen ihrer Verantwortung. Auf Seiten der Befürworter des Verbleibs klammert sich ein Parteivorsitzender an sein Amt, obwohl er den Rückhalt in seiner Fraktion verloren hat. David Cameron, der dieses Referendum erst mögich gemacht hat, weil er wiedergewählt werden wollte, hat seinen Rücktritt konsequenterweise als erster erklärt. William Shakespeare hätte dieses Drama nicht besser ersinnen können.

Ein unbemerktes Drama

Über all das wurde in den Medien ausführlich berichtet, aber das Referendum hat noch eine andere Seite. Eine hässliche Seite. Über die wurde, zumindest in den deutschen Medien, weniger berichtet. Das ist die offen rassistische, fremdenfeindliche Seite des Referendums und des Wahlkampfes vor dem Referendum. Denn im Grunde haben die Befürworter des Austritts nicht für das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU gestimmt, sie haben für das Ausscheiden der EU und das Ausscheiden von allem, wofür die EU steht, aus Großbritannien gestimmt. Das mag trivial klingen, ich halte das aber für eine wichtige Feststellung, weil das die hässliche Seite des Referendums beleuchtet.

Es ist erschreckend, dass sich die Anzahl der Beschwerden über rassistisch konnotierte Zwischenfälle in den Tagen nach dem Referendum nach Angaben der Polizei verfünffacht hat: Es ist die Rede von islamophoben Flugblättern, die in Briefkästen geworfen wurden, einer Polizeiermittlung wegen einer Drohung gegen eine Altenbetreuungseinrichtung, Einwanderer berichten von Beleidigungen, negativen Kommentaren in den sozialen Netzwerken, einschließlich fremdenfeindlicher Formulierungen, und physischen Attacken in selteneren Fällen.

Im Fall der Altenbetreuungseinrichtung mussten mehr als 20 ältere Menschen eine Einrichtung der African Caribbean Care Group verlassen, nachdem ein Drohanruf eingegangen war. In York wurde eine junge Mutter aus Schweden, die mit ihren beiden Kindern unterwegs war, angegriffen mit den Worten: “...**** off back to your own country“.

Nicht nur Muslime und Farbige sehen sich seit dem Referendum dieser Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt. Es trifft auch Bürger der EU, im besonderen auch die ungefähr eine Million Polen, die in Großbritannien leben. So wurde das polnische Kulturzentrum in Hammersmith mit fremdenfeindlichen Graffitis versehen und in Huntingdon wurden laminierte Karten mit der Aufschrift „Leave the EU/No more Polisch Vermin“ auf englisch und polnisch verteilt.

Ich zitiere hier einfach mal direkt:

Sayeeda Warsi, the former chair of the Conservative party, has warned that since the referendum result was announced people were being stopped in the street and told to leave the country.

I’ve spent most of the weekend talking to organisations, individuals and activists who work in the area of race hate crime, who monitor hate crime, and they have shown some really disturbing early results from people being stopped in the street and saying look, we voted Leave, it’s time for you to leave,” Lady Warsi told Sky News.“

Ein gewolltes Drama

Der Brexit hat offensichtlich nicht nur seinen Ursprung teilweise in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Das Ergebnis des Referendums wird von vielen Menschen auch als Legitimierung für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und Gewalt missbraucht. Daran tragen Politiker wie Boris Johnson und Nigel Farage die Schuld. Der Wahlkampf vor dem Referendum war geprägt durch Spaltung: „It hasn’t taken them long, they began by telling us they would have a positive and patriotic case and they’re back to project fear within minutes. There they go again they have nothing positive to say.” (Boris Johnson am 20.06. in einer TV Debatte)

"Wir gegen Die", das ist das, was Boris Johnson propagiert hat und das ist das was bei vielen Wählern verfagen hat. Dazu hat auch Nigel Farage mit seinem „breaking point“ Poster beigetragen. Aber auch die Unfähigkeit der Brexit Befürworter, sich von fremdenfeindlichen Äußerungen und Taten zu distanzieren, spricht dann für sich. Das Motto war offensichtlich von Anfang an „Leave!“ Und es war an die EU und die Einwanderer gerichtet. Das Ziel war : „To get you lot out of here.“ An der Umsetzung wird gearbeitet.

Ein unnötiges Drama

Angesichts der Folgen dieses Wahlkampfes und dieser Entscheidung muss man feststellen, dass die Gegner des Austritts recht hatten: Es gab nichts positives zu sagen. Und jetzt sind auch die Befürworter ziemlich schnell verstummt und haben ihre Posten geräumt oder stehlen sich aus ihrer Verantwortung für dieses wirtschaftliche und gesellschaftliche Desaster für Großbritannien. Sie haben nicht nur die Folgen des Referendums falsch eingeschätzt, sie sind für die Folgen direkt verantwortlich: für die wirtschaftlichen und für die gesellschaftlichen.

Die Befürworter sind auch dafür verantwortlich, dass Konflikte, die überwunden schienen, wieder akut werden könnten: Das Vereinigte Königreich hat seine Sollbruchstellen wiederentdeckt. Die Unabhängigkeitsbestrebungen von Schottland sind wieder aktuell. Die Scottish National Party hatte bereits im Mai entschieden, dass im Falle des Austritts ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands wieder eine Option sei. Damit ist die SNP wahrscheinlich die einzige britische Partei mit einem Plan B.

Auch der Nordirlandkonflikt wird wieder offensichtlich: Die Katholiken, die mehrheitlich an der Grenze zu Irland wohnen, waren gegen den Austritt. Die Protestanten im Norden haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt. Man muss keine Bürgerkriegsszenarien herauf beschwören. Aber sollten die Katholiken auf die Idee kommen, sich der Republik Irland anzuschließen, die mehrheitlich katholisch ist, dann erscheint die Situation in Nordirland plötzlich wieder besorgniserregender als ein Unabhängigkeitsreferendum in Schottland.

Die Behauptung, die „undemokratische“ Struktur der EU oder Angela Merkels Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge hätten etwas mit dem Ausgang und den Folgen des Referendums zu tun, ist deswegen eine eklatante Verdrehung von Ursache und Wirkung. Wer ernsthaft behauptet, die EU oder Angela Merkel seien Schuld an einer Zunahme von Extremismus und Fremdenfeindlichkeit, kann nicht gleichzeitig behaupten, Referenden über komplexen Fragen seien eine gute Idee.

Genauso wenig erklärt die Kritik an der EU, warum das Vereinigte Königreich droht, an seinen Sollbruchstellen zu zerfallen. Denn der Brexit ist offensichtlich weniger das Resultat einer Vertrauenskrise: Er ist der Anfang der moralischen und politischen Destabilisierung einer Gesellschaft. Das Referendum hat die Büchse der Pandora geöffnet, er hat etwas frei gesetzt, und das bricht sich jetzt in England Bahn gegen Polen, Muslime und andere Zuwanderer.

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