Am Anfang sieht man einen Spiegel. Er zeigt nichts. Höchstens eine vage, verschwommene Ahnung vom Raum, der sich davor erstrecken muss. Eine Fliege brummt, ein Husten krächzt, Vorboten des Verfalls. Dann tritt Fatma vor diesen Spiegel. Sie ist mit ihrer Familie aus Wien in ein türkisches Dorf gekommen, um die Hochzeit ihres Sohns Hasan mit Ayse zu feiern. Ein Anlass, der fröhlicher sein sollte, als er dann ist.
„Kuma“ heißt zweite Frau. Das junge Mädchen Ayse ist diese zweite Frau. Aus den tiefen der türkischen Provinz wurde sie nach Wien geholt für den Fall der Fälle. Die erste Frau ist Fatma. Sie hat Krebs. Sie geht durch die Hölle der Chemotherapie. Vielleicht wird sie sterben. Ayse soll ihren Platz einnehmen. Sie ist also nicht als Hasans Braut gekommen. Sondern als künftige Frau seines Vaters. Und die Tatdache, dass der unfreiwillige Bräutigam in Wahrheit schwul ist, macht die Sache auch nicht leichter.
Das ist das beklemmende Szenario, das der österreichische Regisseur Umut Dağ in seinem ersten Spielfilm eröffnet. Kuma wurde im vergangenen Jahr in Österreich gedreht und eröffnete ebenfalls 2012 die Panorama-Sektion der Berliner Filmfestspiele. Trotz dieser Unterstützung dauert es, bis ein solcher Film in die Kinos kommt.
Eingeschlossen in Parallelwelten
Dağ hat ein Kammerspiel gedreht. Selbst die Außenaufnahmen haben etwas sonderbar Klaustrophobisches. Als Fatma das Haus verlässt, geht ihr die Kamera voraus, nebenan lärmt eine Musikertruppe, Kinder spielen. Aber der Blick bleibt verengt auf die ältere Frau und erzeugt mitten im Freien eine enge Zelle um sie herum.
Es geht um das Eingeschlossensein und um die Parallelwelten der Migranten. Der in Wien aufgewachsene Sohn kurdischer Einwanderer weiß, wovon er redet. Er kennt das Nebeinander der Wiener Wirklichkeiten. Für den Zuschauer bedeutet das: Es geschieht immer etwas dort, wo wir gerade einmal nicht hinschauen. Umut Dağ und seine Drehbuchautorin Petra Ladinigg erzählen lieber von den Folgen großer Ereignisse als von den Ereignissen selbst. Sie lassen auch die Menschen in ihrem Film um das Unausgesprochene, das auch ein Unaussprechliches ist, herumreden.
Murathan Muslu verleiht dem Bräutigam Hasan ein ernstes, beinahe steinernes Gesicht, eine Maske der Pflichterfüllung, während Dilara Karabayir als seine Schwester Nurcan ihren Trotz und ihre Wut auf die seltsame, neue Konstruktion der Familie hinausspeit – in breitem Wienerisch, das allein schon eine Provokation sein soll für ihre konservativen Eltern und für Ayse, die Fremde, die wie Fatma nur Türkisch spricht.
Auf den Kopf gestellt
Eine Untersuchung im Auftrag der Gleichstellungskommission des türkischen Parlaments kam 2011 zu dem Ergebnis, dass knapp 200.000 Frauen, vor allem in den östlichen und südöstlichen Provinzen des Landes, in einer Vielehe leben – obwohl diese offiziell gesetzlich verboten ist. Laut den Wissenschaftlern der Hacettepe-Universität in Ankara liege der Hauptgrund für Polygamie darin, dass die erste Frau ihrem Ehemann keinen Sohn, wie es unschön heißt, „schenken“ könne.
Diese patriarchalische Hierarchie stellt Umut Dağ in seinem Film auf den Kopf. Dass der Sohn die künftige Frau des Vaters heiratet – das darf selbstredend außerhalb des Haushalts in Wien niemand erfahren. Und so wird Ayse nicht nur in eine neue Kultur gezogen, sondern auch in eine neue Familie mit sechs Kindern, von denen ihr einige feindselig begegnen.
Zärtlichkeit für eine Sklavin
Für die Männer und Jungs interessiert Umut Dağ sich dabei nur wenig. Die Männer fallen nur auf, wenn sie zu den Frauen in die Küche kommen und nach neuem Tee verlangen. Umut Dağs Interesse gilt den Töchtern Nurcan und Kezban, die Ayse mit Verachtung und Eifersucht begegnen – weil sie sich um ihren Platz in der weiblichen Hierarchie betrogen sehen. Und es gilt Fatma, der kranken Ehefrau, die den Rest ihrer Kraft der Pflicht gegenüber der Familie widmen will und dabei tut, was sie kann, um ihre eigene Nachfolgerin zu installieren und zu schützen. Bei den Jüngeren der Familie gesellen sich individuelle Verletzungen zu den Werten ihrer Generation, die wenig anzufangen weiß mit der Unterordnung des Einzelnen unter das vermeintliche Wohl der Familie. Noch weniger können sie mit dem Mädchen aus den Tiefen der türkischen Provinz anfangen.
Die Zärtlichkeit, mit der Fatma Ayse in ihre neue Umgebung einführt, erscheint wie Streicheleinheiten für eine Sklavin. Aber Fatmas Umarmungen lässt Ayse zu. Die von Mustafa, der keineswegs ein gewalttätiger Patriarch ist, nur widerwillig. Nach der Hochzeit führt die Mutter die Frau ihres Sohnes ihrem eigenen Ehemann zu. Und der schwängert sie dann auch noch.
Ein doppelter Käfig ist um Ayse gelegt. Der eine besteht aus Schweigen, manchmal einer gezischten Bemerkung in fremder Sprache. Umut Dağ beschreibt den Druck, der sich in der Familie aufbaut, durch vielsagende Stille, starre Mienen und spärliche Bewegungen. Seine Figuren sind alle wie von einer seltsamen Lähmung befallen.
Richtiger Ton, richtige Form
Der zweite Käfig ist sichtbarer: Dağ hat einen Mikrokosmos um seine Darstellerin Begüm Akkaya gebaut, durch den diese sich unsicher, tastend und scheu bewegt. Die Handlung spielt sich fast nur in kleinen, geschlossenen Räumen ab. Nicht türkischstämmige Österreicher spielen hier keine Rolle. Hasan besucht die Universität, die kleineren Kinder gehen zur Schule, sie wechseln fließend zwischen Deutsch und Türkisch, und das nicht nur in der Sprache. Doch ein Gesicht bekommt die Wiener Außenwelt nie. Bestenfalls ziehen einmal ein paar Frauen mit schulterfreien Tops und blondem Haar im Supermarkt durchs Bild. Ayse nimmt hier, wo sich die türkische Community ihres Viertels trifft, um vor der Fleischtheke den neuesten Klatsch auszutauschen, bald einen kleinen Job an. Der Zuschauer ahnt: Dieser kleine Strahl der Freiheit könnte in eine Katastrophe münden.
Mit Integration, sagt der Regisseur Umut Dağ, habe er sich nicht befassen wollen, dieses Konzept spiele für ihn keine Rolle. Außerdem sei sein Film kein Statement, sondern bestehe aus Beobachtungen. So ganz mag man ihm das nicht bestätigen: Ein wenig artifiziell wirkt Kuma dann doch in seiner Familienkonstellation, und ein wenig übertreibt Dağ es mit den Geheimnissen und Nöten, über die in der Familie so sorgsam geschwiegen wird. Aber für ein konzentriertes Kammerspiel über unterdrückte Sehnsüchte und unterdrückte Individualität hat Umut Dağ den richtigen Ton und die richtige Form gefunden.
Kuma läuft ab 8. August im Kino
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