Slavoj Žižek: Pazifismus ist die falsche Antwort auf diesen Krieg
Ukraine/Russland Der Philosoph Slavoj Žižek ist überzeugt: Mit Pazifismus kommt man in diesem Krieg nicht weiter. Warum man kein Linker sein kann, ohne klar hinter der Ukraine zu stehen
So sehen ihn seine Kritiker: Wladimir Putin, im John-Heartfield-Style
Foto: Ramsey Cardy/Sportsfile/Getty Images
Für mich war John Lennons Hit Imagine immer aus den falschen Gründen populär. Die Vorstellung, dass „die Welt als Einheit leben wird“, führt geradewegs in die Hölle.
Wer angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine am Pazifismus festhält, bleibt in seiner eigenen Version von „Imagine“ gefangen. Stell dir eine Welt vor, in der Konflikte nicht mehr mit Waffengewalt gelöst werden ... Europa verharrte in dieser Welt des „Stell dir vor“ und ignorierte die brutale Realität jenseits seiner Grenzen. Jetzt ist es an der Zeit, aufzuwachen.
Der Traum von einem schnellen ukrainischen Sieg, der auf den ursprünglichen Traum von einem schnellen russischen Sieg folgte, ist ausgeträumt. In einer Situation, die sich zu
ner Situation, die sich zu einem langwierigen Patt entwickelt, kommt Russland langsam voran, und sein Endziel ist klar definiert. Man muss nicht mehr zwischen den Zeilen lesen, wenn Putin sich mit Peter dem Großen vergleicht: „Auf den ersten Blick führte er Krieg gegen Schweden und riss etwas an sich ... Er riss nichts an sich, er gab etwas zurück ... Zurückgeben und Stärken, das ist es, was er tat ... Offensichtlich ist uns die Aufgabe zugefallen, ebenfalls zurückzugeben und zu stärken.“Anstatt uns auf Detailfragen zu konzentrieren (gibt Russland etwas „zurück“, und wenn ja, an wen?), sollten wir Putins Rechtfertigung seines Anspruchs aufmerksam lesen: „Um Führung zu beanspruchen – ich spreche da nicht einmal von globaler Führung, ich meine Führung in einem beliebigen Bereich –, sollte jedes Land, jedes Volk, jede ethnische Gruppe ihre Souveränität sicherstellen. Denn es gibt kein Dazwischen, keinen Zwischenzustand: Entweder ist ein Land souverän, oder es ist eine Kolonie, egal wie man diese Kolonien nennt.“Die Implikation dieser Zeilen ist, wie ein Kommentator es ausdrückte, klar. Es gibt zwei Kategorien von Staaten: „Den souveränen und den eroberten. In Putins imperialer Sichtweise sollte die Ukraine in die letztere Kategorie fallen.“ Und in diese „letztere Kategorie“ – das geht nicht minder deutlich aus den offiziellen Erklärungen Russlands in den letzten Monaten hervor – fallen Bosnien und Herzegowina, der Kosovo, Finnland, die baltischen Staaten ... und letztlich Europa selbst.Eine stärkere NATOWir wissen jetzt, was die Forderung, man müsse Putin erlauben, „sein Gesicht zu wahren“, bedeutet. Nicht etwa nur einen kleinen territorialen Kompromiss im Donbass zu akzeptieren, sondern Putins imperiale Ambitionen. Dieses Bestreben sollte bedingungslos zurückgewiesen werden, denn in der globalisierten Welt von heute befinden wir uns alle in einem Zwischenzustand, sind weder ein souveränes noch ein erobertes Land: Angesichts der Erderwärmung auf voller Souveränität zu bestehen, ist schierer Wahnsinn, denn unser Überleben hängt von einer engen globalen Zusammenarbeit ab.Aber Russland ignoriert die Erderwärmung nicht einfach – woher rührt die Wut auf die skandinavischen Länder, die beabsichtigen, der NATO beizutreten? Im Zuge der Erderwärmung geht es um die Kontrolle der Nordwestpassage. (Deshalb wollte Trump Dänemark Grönland abkaufen.) Im Zuge der rasanten Entwicklung Chinas, Japans und Südkoreas wird die Haupttransportroute nördlich von Russland und Skandinavien verlaufen. Russlands strategischer Plan ist es, von der Erderwärmung zu profitieren: Es will die Kontrolle über diese Route, dazu Sibirien nutzbarer machen und die Ukraine kontrollieren. Russland wird dann die Nahrungsmittelproduktion so sehr beherrschen, dass es die ganze Welt erpressen kann. Das ist die wirtschaftliche Realität hinter Putins imperialem Traum.Diejenigen, die dafür plädieren, die Ukraine weniger zu unterstützen und mehr Verhandlungsdruck auf sie auszuüben, wiederholen gerne, dass sie den Krieg gegen Russland nicht gewinnen kann. Stimmt, aber genau darin liegt für mich die Größe des Widerstands der Ukrainer: Sie haben das Unmögliche riskiert und sich pragmatischen Kalkulationen widersetzt, und das Mindeste, was wir ihnen schulden, ist volle Unterstützung. Dazu brauchen wir eine stärkere NATO – aber nicht als verlängerten Arm der US-Politik.Die US-Strategie, über Europa gegenzusteuern, erklärt sich nicht von selbst: Nicht nur die Ukraine, auch Europa wird zum Schauplatz des Stellvertreterkriegs zwischen den USA und Russland, der durchaus mit einem Kompromiss auf Kosten Europas enden kann. Es gibt für Europa nur zwei Auswege: das Spiel der Neutralität zu spielen – der schnellste Weg in die Katastrophe – oder ein eigenständiger Akteur zu werden. (Man denke nur daran, wie sich die Situation verändern könnte, sollte Trump die nächsten US-Wahlen gewinnen.)Während einige Linke behaupten, dass der andauernde Krieg im Interesse der NATO liegt, die den Bedarf an neuen Waffen nutzt, um Krisen zu umgehen und Profite zu erzielen, lautet ihre wahre Botschaft an die Ukraine: Okay, ihr seid Opfer einer brutalen Aggression, aber verlasst euch nicht auf unsere Waffen, denn damit spielt ihr dem industriell-militärischen Komplex in die Hände ...Die Orientierungslosigkeit durch den Ukraine-Krieg bringt so seltsame Bettgenossen wie Henry Kissinger und Noam Chomsky hervor. Beide plädierten kürzlich dafür, die Ukraine solle für einen schnelleren Friedensschluss einen Kompromiss erwägen, bei dem sie ihren Anspruch auf einige Gebiete aufgibt.Beide stehen für einen „Pazifismus“, der nur funktioniert, wenn wir vernachlässigen, dass es bei dem Krieg nicht um die Ukraine geht, sondern um einen Moment des brutalen Versuchs, unsere gesamte geopolitische Lage zu verändern. Das wahre Ziel ist die Zerschlagung der europäischen Einheit, die nicht nur von US-Konservativen und Russland befürwortet wird, sondern auch von der europäischen extremen Rechten und Linken – in Frankreich trifft an dieser Stelle Le Pen auf Mélenchon.Die verrückteste Idee, die derzeit kursiert, ist die, dass Europa und Russland, um der neuen Polarität zwischen den USA und China (die für die Auswüchse des westlichen Liberalismus und des orientalischen Autoritarismus stehen) entgegenzuwirken, ihre Kräfte bündeln und einen dritten „eurasischen“ Block bilden sollten, der auf dem von seinen liberalen Auswüchsen gereinigten christlichen Erbe basiert. Allein die Idee eines „eurasischen“ dritten Weges ist eine Form von heutigem Faschismus.Was also wird passieren, wenn die Wähler in Europa und Amerika angesichts steigender Energiekosten und der durch die Sanktionen ausgelösten Inflation die Lust an einem Krieg verlieren, der auf eine langwierige Pattsituation zusteuert? An diesem Punkt ist das europäische Erbe verloren, und Europa wird de facto zwischen einer amerikanischen und einer russischen Einflusssphäre aufgeteilt. Europa selbst wird dann zum Schauplatz eines Krieges, bei dem kein Ende absehbar ist ...Für einen echten Linken ist heute nicht nur die Unterstützung Russlands absolut inakzeptabel, sondern auch die „zurückhaltendere“ neutrale Forderung, dass die Linke eben in Pazifisten und Unterstützer der Ukraine gespalten und dass dies als Nebensache zu behandeln sei, die den globalen Kampf der Linken gegen den globalen Kapitalismus nicht beeinträchtigen darf.Man kann heute kein Linker sein, wenn man nicht eindeutig hinter der Ukraine steht. Ein Linker, der „Verständnis“ für Russland zeigt, ist mit jenen Linken vergleichbar, die vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die deutsche „antiimperialistische“ Rhetorik gegen Großbritannien ernst nahmen und sich für Neutralität im Krieg Deutschlands gegen Frankreich und Großbritannien einsetzten.Wenn die Linke hier versagt, ist das Spiel für sie aus. Aber bedeutet das, dass die Linke sich einfach auf die Seite des Westens stellen sollte, einschließlich der rechten Fundamentalisten, die auch die Ukraine unterstützen?In einer Rede in Dallas am 18. Mai 2022 kritisierte der ehemalige US-Präsident George W. Bush das politische System Russlands: „Das Ergebnis ist die fehlende Gewaltenteilung in Russland und die Entscheidung eines Mannes, eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion des Irak zu starten.“ Er korrigierte sich schnell: „Ich meine, der Ukraine“, dann sagte er unter dem Gelächter der Menge: „Iraq, anyway“, und ergänzte: „75“ – sein Alter.Bei diesem recht offensichtlichen Freud’schen Versprecher stechen zwei Dinge ins Auge: die Tatsache, dass die Anwesenden Bushs implizites Eingeständnis, dass der (von ihm befehligte) US-Angriff auf den Irak „eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion“ war, mit Gelächter quittierten, anstatt es als Eingeständnis eines Verbrechens zu bewerten, das mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vergleichbar ist; sowie Bushs rätselhafte Fortsetzung seiner Selbstkorrektur „Iraq, anyway“ – was meinte er damit? Dass der Unterschied zwischen der Ukraine und dem Irak nicht wirklich von Bedeutung ist?Aber das Rätsel löst sich in dem Moment auf, in dem wir Bushs Aussage ernst und wörtlich nehmen: Ja, bei allen Unterschieden (Selenskyj ist kein Diktator wie Saddam), Bush tat dasselbe, was Putin jetzt mit der Ukraine macht, also sollten beide nach demselben Maßstab beurteilt werden.Ich schrieb diese Zeilen an dem Tag, als bekannt wurde, dass die britische Innenministerin Priti Patel der Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange an die USA zugestimmt hat. Assanges Verbrechen? Er hat jene Verbrechen öffentlich gemacht, die George W. Bush mit seinem Versprecher zugegeben hat: Die von Wikileaks enthüllten Dokumente zeigten, wie unter Bushs Präsidentschaft „das US-Militär Hunderte von Zivilisten in nicht gemeldeten Vorfällen während des Krieges in Afghanistan getötet hatte, während geleakte Akten aus dem Irakkrieg zeigten, dass 66.000 Zivilisten getötet und Gefangene gefoltert worden waren“. Verbrechen, die mit dem, was Putin in der Ukraine tut, vergleichbar sind. Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass Wikileaks Dutzende von amerikanischen Butschas und Mariupols aufgedeckt hat.Die Freiheit der RussenWährend es also nicht weniger illusorisch ist, Bush vor Gericht zu stellen, als Putin vor das Haager Tribunal, ist das Mindeste, was diejenigen tun sollten, die gegen die russische Invasion in der Ukraine sind, die sofortige Freilassung von Assange zu fordern. Die Ukraine behauptet, sie kämpfe für Europa, und Russland behauptet, es kämpfe für den Rest der Welt gegen die unipolare Hegemonie des Westens. Beide Behauptungen sollten zurückgewiesen werden, und hier kommt der Unterschied zwischen rechts und links zum Tragen.Aus Sicht der Rechten kämpft die Ukraine für europäische Werte gegen nichteuropäische autoritäre Regime; aus linker Perspektive kämpft die Ukraine für globale Freiheit, und die schließt auch die Freiheit der Russen selbst ein. Deshalb schlägt das Herz eines jeden wahren russischen Patrioten für die Ukraine.