Hör mir auf mit Dietmar Dath! „So einer hockt in jedem Dorf – an jeder Bushaltestelle: der Junge, der Science-Fiction liest. Comics, Groschenhefte. Die Nachbarn schwärmen ‚Wie talentiert!‘, die Lehrer ‚Allerhand!‘, die Eltern ‚Ein Unikat!‘. Doch zum Abitur dann trotzdem nur ein Notenschnitt von 1,7. Eigenbrötler. Verblasener Autodidakt. Selbstbewusst – aber immer nur halb fertig!“
Hanns-Josef Ortheil schimpfte so, 2007: Wir beide gaben ein Seminar über junge Literatur. Ich schwärmte von Dath – bis heute ein Lieblingsautor. Doch Ortheil, Institutsleiter meiner Hildesheimer Schreibschule, schien entnervt wie nie: Seit 1995 schreibt Dath Romane, Essays, Kritiken, Graphic Novels und Lyrik über Buffy und Death Metal, die KPD und Lost, den Südschwarzwald und Quantenmechanik. Ein Mathe-, Physik-, Pop-, Hermeneutik- und Polit-Liebhaber, der wilder, weiter denken, spinnen, kreuzen, belehren und überraschen will als die viel schnittigeren eingleisigen Experten.
Seit 2001, als Dath von der Musikzeitschrift Spex ins Feuilleton der FAZ wechselte; seit 2005, als er unter anderem bei Suhrkamp verlegt wurde, erklären Germanisten-Seriösis gern: „Hier kritisiert einer den konservativen Backlash im grün-alternativen Bürgertum. Und Zombies packt er gleich dazu. Als Bonus. Starke Metapher!“ Oder: „Es geht um Schöpfung und Kontrolle: Künstler als politische Subjekte. Aber trashig-farbenprächtig illustriert und ausgeschmückt. Bittere Pillen, hochbrisant! Genre, Entertainment, Subkultur, das ist Daths Zuckerglasur. Drunter ist Furor!“
Nah am 30. Jahrhundert
In Venus siegt, Daths 18. Roman, hakt diese Teilung: Zwar trifft, wie meist, Phantastik auf Politik und Aufklärung. Es geht um Roboter, Terraforming, Transhumanismus und Verteilungskriege zwischen den Planeten des Sonnensystems nah am 30. Jahrhundert. Es geht, noch stärker, um Planwirtschaft, politikverdrossene Eliten, mathematische Kategorien- und Topostheorie und um den Machterhalt der stursten, zähsten, trockensten Regentin seit Angela Merkel.
Leona Christensen herrscht über die Venus – den einzigen Planeten, auf dem Roboter, Menschen und freie, körperlose Computerintelligenzen gleichberechtigt im kollektiven „Bundwerk“ rechnen, schuften und dämmern. Ich-Erzähler Nick Helander, Sohn von Leonas rechter Hand, trifft als Attaché Bauern und Kolchose-Robos, Forscher und Aussteiger, Künstler, Funktionäre und unfassbar komplizierte Programme. Er disputiert mit jedem Dialogpartner in seitenlangem Hin und Her und steht schnell vor der Frage: Ist das noch Fortschritt oder schon Regression? Leben wir in einer freien, gerechten Welt? Oder schafft Übermutter „Lily“ eine Diktatur?
Ich las noch keinen Dath-Roman, der sich mehr vorgenommen hat – und selten je ein Buch, für das ich mir weniger Leser vorstellen kann: Ein Kind des Regimes bemerkt, dass plötzlich alles raucht und glüht. Lady Oscar auf der Venus. Great! Doch 100 erste Seiten lang wird nur doziert. 100 letzte Seiten lang brennt die Welt, lapidar und lustlos weggequatscht, literarisch, psychologisch, dramaturgisch hohl. Dazwischen liegt ein leidlich interessanter, atmosphärischer Mittelteil von 90 Seiten. Ein Bruchstück, das provokante Fragen stellt – vorausgesetzt, man überspringt das übergenaue Personenregister, die Klappentexte und Inhaltsangaben.
Bert Brecht schrieb Stücke, die immer wieder klemmten, stoppten, die Gesellschaft aus dem Takt reißen wollten. Ayn Rand schrieb vulgärliberale Traktate, getarnt als Romane: Figurenpsychologie? Egal. Alles nur politisches Gleichnis, Illustration! Thesen werden ausgewalzt in Rede und Gegenrede. Venus siegt steht in dieser didaktischen, freudlosen Tradition: künstliche Sonnen? Fliegende Städte? Trotzdem null sense of wonder: Nichts begeistert. Niemand staunt. Kaum Charme, kein Tempo. Tief im System trifft der wohl langweiligste Mensch der Venus, Nick Helander, wechselnde Stimmen. Alle klingen gleich und reden seitenlang im Stil und Tonfall von Dietmar Dath. Redner statt Rechner. Planet der Laffen: ein Dathoversum voller IT-Kommunisten, in dem trotz aller Zahleneuphorie nur die dathigsten Ansprachen der allerdathigsten Großrhetoriker den Lauf der Welt entscheiden.
Cory Doctorow, ein ähnlich brechtianischer Sci-Fi-Autor und Gesellschaftskritiker, fragte sich, wie sehr das Netz seine Texte verändert. Seit man jedes Stichwort, jeden Namen googeln kann, sieht er sich nicht mehr in der Pflicht, alles Material, auf das sein Schreiben baut, im Text selbst zu erklären. Wer Fragen hat, soll googeln. Dietmar Dath geht eine Potenz weiter: Vielleicht ist Venus siegt ein solides Buch – sobald man fünf Semester Informatik studiert hat.
„Verblasener Autodidakt!“ Hanns-Josef Ortheils Dath-Wut traf bei mir einen Nerv. Ich wuchs als Comic-Eigenbrötler auf, im Dorf. Mein Abi-Schnitt ist 1,7. Mit Texten versuche ich selten, den Hauptpreis zu gewinnen. Besser: erst mal Kategorien sprengen. Erwartungen überrumpeln! So überraschend denken, kreuzen, spinnen, dass mir ein Sonderpreis eingerichtet wird. Venus siegt aber ist der erste Dath-Roman, bei dem ich fürchte: Was, wenn sich Dath jetzt immer einsamer, tiefer verschrullt? Für eine Handvoll Dorf-Nerds schreibt? Schiefe, kunstlose Ideologietraktate? „Erzählt“ wird hier kaum besser als bei Ayn Rand.
Seelen, Körper, Kollektive
„Kannst du noch mal erklären, was dich an Dath stört?“, frage ich Ortheil; denn acht Jahre alte Zitate aus dem Gedächtnis sind nicht fair. „Mir fehlt da Gründlichkeit: Themen werden aufgetan und zu schnell abgehakt. Wenn jemand sagt: ‚Nicaragua. Da müsste man mal recherchieren, lernen, verstehen!‘, hebt Dath den Finger, als hätte er schon 2005 alles Wichtige gesagt, über Nicaragua. Oder über Genetik. Oder über jedes andere Thema, das gerade aufkommt.“
Im Genre der Hard-Sci-Fi – naturwissenschaftlich, nüchtern, theoretisch – wird oft eine „Singularität“ verhandelt: Der Punkt, an dem Computer die Rechenleistung menschlicher Hirne überholen. Kann dann Bewusstsein abgebildet werden, digital? Können Erinnerungen gespeichert werden, geteilt, getauscht? Körper gewechselt? Venus siegt zeigt künstliche Intelligenz auf entsprechendem Niveau. Doch typische Auswirkungen auf Konzepte wie „Menschlichkeit“ und „Bewusstsein“ fehlen hier. Das Buch sollte klügere Fragen stellen über Seelen, Körper, Kollektive. Ich fühle mich wie in einem Politroman über 2015, in dem zwar Dampfmaschinen laufen, doch die Dampflok sich nie recht durchsetzen konnte. Eine ungefähre Welt. Selbstbewusst – aber nur halb fertig. Kein Sonderpreis. Kein Hauptpreis. Und: Was Lady Oscar ist, erkläre ich jetzt nicht. Kann jeder googeln.
Info
Venus siegt Dietmar Dath Hablizel 2015, 300 S., 23,90 €
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