Nach Foster Wallace

Epigonie Mit „Geister“ hat Nathan Hill einen langen und nicht langweilenden Unterhaltungsroman geschrieben
Ausgabe 40/2016

Wir schreiben das Jahr 1968: Gegen den Willen ihres steifen norwegischen Vaters beginnt Faye ein Studium in Chicago. Dort wird das schüchterne, verklemmte Landei über Nacht Teil der Studenten- und Protestbewegung.

1988: Der elfjährige Sam trifft den verwöhnten, unglücklichen Schulhofschreck Bishop, verliebt sich in Bishops Zwillingsschwester Bethany, wird in Verbrechen und Geheimnisse verwickelt ... und über Nacht von seiner Mutter Faye verlassen.

2004: Sam hat einen lukrativen Buchvertrag, muss einen Roman vollenden und sieht in New York Bethany wieder – bei einer Demo gegen den Irakkrieg und George Bush, viel kühler als die Hippieproteste aus Fayes Jugend.

2011: Sams Roman bleibt unvollendet. Er zockt 40 Stunden pro Woche World of Elfquest, unterrichtet Literatur am College und fürchtet, dass sein Verlag wegen Vertragsbruchs vor Gericht zieht. Doch plötzlich macht Faye, seit 1988 abgetaucht, Schlagzeilen – weil sie Senator Packer angegriffen hat, einen ultrarechten Präsidentschaftskandidaten. Sams Verlag verspricht Geld, falls Sam seine Mutter über das Tatmotiv und ihre geheime Aktivistinnen-Vergangenheit aushorcht, für ein schmieriges Enthüllungsbuch.

So weit die Ausgangslage des Romans von Nathan Hill. „Das ist die Sorte Schmöker, für die der Monat September erfunden wurde“, lobte die US-Kritikerin Leah Greenblatt im August. Jetzt erscheint Geister bei uns. Doch wer Angst vor dicken, schweren Romanen hat und sich lieber nicht ein paar Tage durch US-Neurosen quälen will: Geister ist sehr dick. Allerdings überhaupt nicht schwer! Ein harmloses Lese-Erfolgserlebnis, schnell abgehakt.

Schlimm, eigentlich, wenn man an das Erbe, das diesem Roman zugrunde liegt, denkt. An Unendlicher Spaß, mit dem Nathan Hills Kollege David Foster Wallace 1996 alle Register ziehen wollte. Er zeigte todunglückliche, hochbegabte Schüler, gescheiterte Eltern, über 1.000 Seiten Hysterie, Depression, Terrorismus, bitterste Zeitgeist- und Politsatire: ein sperriger, freudloser Gesellschaftsgroßroman, seiner Zeit voraus, doch auf jeder Seite ermüdend, frustrierend, absichtlich unbequem.

Von 38 Agenten abelehnt

2008 nahm sich Wallace das Leben. Unendlicher Spaß schrieb Literaturgeschichte, aber staubt bei Freizeit- und Genusslesern oft abgebrochen im Regal. Erst in den vergangenen Jahren haben pfiffig-griffige Unterhaltungsautoren typische David-Foster-Wallace-Themen und -Figuren aufgegriffen und gefälligere Plots gebaut, mundgerechtere Portionen: der brave Neuseeländer Anthony McCarten (Superhero), der trockene Ire Paul Murray (Skippy stirbt), der sentimentale Nickolas Butler aus Wisconsin (Shotgun Lovesongs) und andere. Nathan Hill gehört in diese Reihe.

Es verdient Anerkennung, dass sich diese Epigonen der Kultur- und Konsumkritik verschrieben haben, dass sie in einfacher Sprache soziale Panoramen zeigen und meist herzzerreißend von Kindheit und vom Verkauf der Unschuld erzählen. Jungsbücher, die (immerhin!) den Anspruch haben aufzurütteln. In entscheidenden Punkten aber bleibt das oft zu flach: Superhero stichelt superblöde gegen die Harry-Potter-Filme, in Skippy stirbt ist jeder zweite Lehrer ein pädophiles Monster, und Shotgun Lovesongs hat das Frauen- und Familienbild der CSU.

Auch in Geister lautert die Gefahr. Sind die Nebenfiguren zu platt? Die Wendungen zu billig? Nathan Hill ist 40. Am Roman hat er viele Jahre geschrieben. Ein Manuskript aus Kurzgeschichten wurde von 38 Literaturagenten abgelehnt. „Damals schrieb ich, um Leute zu beeindrucken“, sagt er einmal, aber wenn „du beeindrucken willst, kommt nichts Beeindruckendes raus“.

Geister beeindruckt sehr. Denn der Unterhaltungsroman findet eine seltene, fast magische Balance. Die einzelnen Kapitel sind stets gerade seriös genug, um nicht in eine Farce abzurutschen. Schlicht formuliert. Oft schlicht gedacht. Doch jedes Mal, wenn es zu plump oder einseitig zu werden droht, springt Hill auf eine andere Zeitebene, zu einer anderen Figur und fängt von Neuem an, einen ganz anderen Bogen genüsslich langsam fast zu überspannen.

Meryl Streep?

Im Original heißt der Roman The Nix, nach dem norwegischen Kobold und Hausgeist (deutsch: Nisse), der Sehnsüchte lockt und hofft, dass sich Menschen dafür ins Verderben stürzen. „Was du am meisten liebst, wird dich am meisten verletzen.“ Richtig stimmig werden solche Motive und tieferen Fragen in Geister allerdings fast nie. Es gibt ein überlanges Kapitel über Onlinespiele, in dem nur steht, was alle eh schon über World of Warcraft wissen. Es gibt ein überlanges Kapitel zum Aufklärungsunterricht an Provinzschulen in den 60er Jahren, in dem sich dann allerdings unerhörte, toll recherchierte Abgründe auftun. Geister mäandert drauflos, in allerlei unerwartete und dabei oft überraschend robust, süffig und plausibel erzählte Richtungen. Dass Meryl Streep gern Mutter Faye spielen will, in einer geplanten Serienversion, verwundert trotzdem. Denn richtig tief, richtig nah geht Hill fast nie.

„Fast alles hier im Buch könnte auch von irgendeinem anderen Autor stammen“, klagte ein Kritiker: „Weder beim Lesen noch später vermittelte mir der Text irgendein Gefühl dafür, wer Mr. Hill eigentlich ist und wie er die Welt sieht.“

Nun, Mr. Hill ist kein Genie. Auch kein Gesellschaftskritiker, der über Populismus, Afghanistan, Protestkultur, US-Vorstädte, Studenten der Generation Y, Celebrity-Memoiren, Demenz, Norwegen oder die 100 anderen Themen, die er kurz anrempelt, Atemberaubendes zu sagen hätte. Aber eben: ein netter Kerl, dem man gern zuhört, volle 860 Seiten lang. Respekt.

Info

Geister Nathan Hill Katrin Behringer, Werner Löcher-Lawrence (Übers.)
Piper 2016, 864 S., 25 €

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Geschrieben von

Stefan Mesch

Autor, Kritiker, Kulturjournalist in Heidelberg und Toronto. Schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. www.stefanmesch.wordpress.com

Stefan Mesch

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