Das Ende der Ukraine, wie wir sie kennen

Alea iacta est Der russische Angriff wird die Landkarte Osteuropas verändern, weit über Donetsk und Lugansk hinaus. Die Ukraine von 1991 gibt es nicht mehr - doch der größte Verlierer ist die EU.

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Nach dem Anerkennung der Unabhängigkeit der ‘Volksrepubliken’ am Montag (21.2.) hat Moskau nicht lange gewartet. Am Dienstag machte es deutlich, dass sich die Anerkennung auch auf die von den Separatisten beanspruchten Gebiete bezieht, also die gesamten Regionen Donetsk und Lugansk. Bisher kontrollierten sie nur etwa ein Drittel dieser Fläche; die Kontaktlinie des Bürgerkriegs befand sich direkt am Stadtrand der Großstädte Donetsk und Gorlivka. Am Mittwoch baten die Führungen der ‘Volksrepubliken’ offiziell um russische Militärhilfe. Donnerstag früh marschierte die russische Armee in die Ukraine ein, offenbar aus mehreren Richtungen.

Damit begann der Krieg, genauer: eine neue, eskalierte Phase des Krieges. Faktisch hatte er bereits am letzten Freitag (18.2.) begonnen, mit der massiven Zunahme der Angriffe der ukrainischen Armee auf die Separatistengebiete. Vorangegangen war eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats, bei der offensichtlich wurde, dass es seitens Kievs (weiterhin) keinerlei Bereitschaft gab, das Minsker Friedensabkommen von 2015 umzusetzen. Dass Russland eine militärische Eroberung von Donetsk und Lugansk nicht zulassen würde, hatte der Kreml immer wieder betont. Doch an der Haltung Kievs änderte dies ebenso wenig etwas wie das Votum der russischen Duma für die Anerkennung der ‘Volksrepubliken’. Die letzte Chance für die Diplomatie war somit am 17.2. gestorben.

Es herrscht wieder Krieg in Europa - zum ersten Mal seit 1999

Der Krieg wird so geführt, wie es bei einem Angriff einer hundertfach überlegenen Macht im 21. Jahrhundert zu erwarten ist: Zunächst wurde innerhalb kürzester Zeit mit Raketenangriffen die Luftwaffe des Gegners ausgeschaltet, sicherlich auch die Luftabwehr und wichtige Radarstationen. Somit hat Russland nun die völlige Lufthoheit über das Land, auch weitere Waffenlieferungen aus dem Westen sind nicht möglich (bzw. nur auf dem Landweg). Die ukrainische Armee, die über 100.000 Soldaten nahe der Kontaktlinie im Südosten konzentriert hat, ist damit den Angriffen der russischen Luftwaffe quasi schutzlos ausgeliefert. Das Klügste für sie wäre, sich zu zerstreuen, wozu der Kreml sie bereits aufgefordert hat.

Putin wird den Krieg schnell siegreich abschließen wollen - mit möglichst geringen eigenen und, so steht zu hoffen, auch ukrainischen Opfern. Dazu muss er zweierlei erreichen: Die Zerschlagung der ukrainischen Armee im Osten des Landes (der arme, landwirtschaftlich geprägte Westen interessiert ihn nicht), sowie die Eroberung von Kiev und damit die Kontrolle des ukrainischen Staatswesens. Wo der Schwerpunkt der Kampfhandlungen liegen wird, dürfte nicht zuletzt vom Verhalten der gegnerischen Militärs abhängen. Dass Putin die ukrainische Armee “aus Prinzip” vernichten will, ist nicht unbedingt anzunehmen. Es kann allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, vor allem aufgrund ihrer Aufrüstung mit modernen westlichen Waffen, die der russischen Armee in einem Guerillakrieg große Probleme bereiten könnten.

Wie es dann weitergeht, ist Spekulation. Im Folgenden sei ein denkbares Szenario skizziert, das den Plänen des Kremls nahekommen könnte - oder auch nicht.

Das russische Militär könnte sich theoretisch darauf beschränken, die vollständige Kontrolle über die beiden von den Separatisten beanspruchten Regionen zu erlangen. Die bisherigen Angriffe zeigen jedoch, dass das nicht der Fall ist: Offenbar will Putin ‘ein für allemal’ neue, ihm genehme(re) Verhältnisse schaffen. Wenn Donetsk und Lugansk erobert (westliche)/ befreit (russische Sicht) sind, dürften auch andere mehrheitlich russischsprachige Regionen von Kiev lossagen wollen - es darf nicht vergessen werden, dass die ‘autonomen Gebiete’ nach dem Putsch vom Februar 2014 zunächst deutlich größer waren. Seitdem dürfte die zunehmende Unterdrückung der russischen Sprache sowie der “ostukrainischen” Parteien die Wut auf die Zentralregierung erhalten, wenn nicht gesteigert haben.

Um den Bewohner:innen dieser Regionen entgegenzukommen, und mehr noch aus eigenen strategischen Interessen, dürfte Moskau nach der Besetzung alle Regionen im Osten und Süden des Landes vor die Wahl stellen, ob sie Teil der Ukraine, Teil Russlands(?) oder unabhängig sein wollen. Dazu könnte es zeitnah Referenden geben nach dem Vorbild der Krim, die der Westen selbstverständlich wieder als “Propaganda” und “Farce” bezeichnen wird. Dabei ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Meinung der dortigen Bevölkerung Putin tatsächlich interessiert: Denn letztlich würde es sich mit der Eingliederung einer Region, deren Bewohner:innen dies ablehnen und Russland hassen, nur neue Konflikte und künftige Terroranschläge ins Land holen.

Moskaus Ziel bzw. Hoffnung wäre jedoch, die Schwarzmeerregionen sowie die (meisten) Gebiete östlich des Dnjepr mit “demokratischer Legitimation” dem russischen Macht- bzw. Staatsgebiet einzuverleiben. Die genaue Grenzziehung ist möglicherweise noch nicht entschieden, doch es muss davon ausgegangen werden, dass die wirtschaftlich, strategisch und touristisch-kulturell interessanten Gebiete im Osten und Süden unter russische Kontrolle kommen.

Übrig bliebe ein ukrainischer Rumpfstaat im Nordwesten des Landes mit halber Einwohnerzahl.

Ohne Häfen und Industrie bliebe fast nur der gute Ackerboden als Wirtschaftsfaktor; diese Rest-Ukraine wäre also noch stärker vom Westen abhängig. Noch mehr als bisher würden (vor allem junge, gut ausgebildete) Ukrainer:innen dem Land den Rücken kehren; zurück bliebe eine verarmte, verbitterte, schrumpfende und alternde Bevölkerung. Düstere Aussichten für die Menschen - gute Aussichten dagegen für internationale Agrarkonzerne und -spekulanten, die sich das Ackerland unter den Nagel reißen würden, um mit viel Technik und wenigen Arbeitskräften für den Export anzubauen. Als einzige Hoffnung bliebe dann tatsächlich ein Beitritt zur EU, was ohne anerkannte und auch tatsächlich kontrollierte Staatsgrenzen jedoch auf absehbare Zeit illusorisch wäre. Möglich, dass westliche Landesteile mittelfristig eine Perspektive in einem Anschluss an Polen, Ungarn oder Rumänien sähen. Die Ukraine in ihrer bisherigen Form dürfte gut 30 Jahre nach ihrer Gründung jedenfalls Geschichte sein.

Putins Rechtfertigungsreden: Alles Propaganda oder was?

Dass der russische Präsident die russisch-ukrainische Geschichte bemüht, von der möglichen Entwicklung von Atomwaffen und einem drohenden Genozid(!) spricht, hat vor allem innenpolitische Gründe: Auch ein Putin muss den Krieg gegenüber der eigenen Bevölkerung rechtfertigen. Atomwaffen könnte die Ukraine höchstens von Westen bekommen (was extrem unwahrscheinlich ist), ein ‘Völkermord’ drohte im Donbass nicht - wohl aber grausame Massaker an Milizen und Zivilist:innen im Falle einer Eroberung durch Kiev. Seine historischen Ausführungen sind weitgehend zutreffend: Natürlich ist die Ukraine eine im Laufe des 20. Jahrhunderts ‘künstlich’ geschaffene Einheit, die bis 1991 nie als Staat existiert hat. Aber das rechtfertigt selbstverständlich nicht ihre Zerschlagung durch einen Krieg! Schließlich ist jeder Staat irgendwann ‘künstlich’ geschaffen worden (abgesehen vielleicht von Inselstaaten wie Madagaskar), manche vor Jahrhunderten, andere erst vor wenigen Jahren bis Jahrzehnten.

Die russische Staatsführung hat die Verschiebung von Grenzen bisher stets abgelehnt, ob in Jugoslawien, in Syrien oder anderswo. Das hat sowohl mit Russlands eigenem Aufbau als “Vielvölkerstaat” zu tun als auch mit seiner grundsätzlichen Haltung zum Völkerrecht: Auch im Donbass-Konflikt hatte sich Moskau - im Gegensatz zu Kiev - bisher daran gehalten. Zuletzt hatte Putin es ganz offen mit der Roosevelt’schen Maxime versucht: Speak softly and carry a big stick. Doch auch Hochdruck-Diplomatie und militärische Drohgebärden haben kein Einlenken Kievs bewirkt - nun folgt Plan B. Die Rhetorik Putins zeigt, dass er dabei starke Parallelen zum Zerfall/ zur Zerschlagung Jugoslawiens sieht. Womit er nicht ganz Unrecht hat.

Europäische Außenpolitik R.I.P.

Der Krieg findet in der Ukraine statt, die Leidtragenden sind die dort lebenden Menschen. Der größte Verlierer des Krieges ist jedoch die EU, die - wie schon 2014 - bis zuletzt auf eine diplomatische Lösung gesetzt hat. Durch die Reduzierung ihrer politischen und wirtschaftlichen Verbindungen nach Moskau auf ein Minimum verliert sie ihren geostrategischen Spielraum. Alle Träume einer eigenständigen Außenpolitik, ja ‘Weltmachtrolle’ kann Europa damit begraben; stattdessen wird der Kontinent (wieder) strategisch von seinen transatlantischen Bündnispartnern abhängig. Die einzige Alternative wäre eine deutliche Aufwertung des Verhältnisses zu China - aber davon ist nicht unbedingt auszugehen.

geschrieben am Donnerstag, 24. Februar 2022, mittags/ nachmittags

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Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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