Die hohe Kunst des Wahltermins

Europa Die Termine von “Brexit”-Referendum und Spanien-Wahl sind geschickt gesetzt. Kann es gelingen, in deren Vorfeld einen Kurswechsel in der Austeritätspolitik einzuleiten?

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Wenn nichts dazwischenkommt, werden die BritInnen am 23. Juni über den Verbleib ihres Landes in der EU abstimmen. Und den aktuellen Meldungen zufolge werden nur wenige Tage darauf in Spanien Neuwahlen stattfinden, nachdem sich die Parteien nicht auf eine Regierungsbildung einigen konnten und König Felipe nun das Parlament aufgelöst hat. Zwei für die weitere Entwicklung der Europäischen Union eminent wichtige Ereignisse innerhalb von nur einer Woche - ein bloßer Zufall, oder steckt mehr dahinter?

Zumindest ein Teil der Antwort könnte im Südosten Europas zu finden sein. Am 13. Juli muss Griechenland laut WSJ-Zeitplan 450 Millionen Euro an den IWF und am 20. Juli knapp 2,3 Milliarden an EZB und nationale Zentralbanken zurückzahlen. Dieses Geld dürfte Athen ohne die vorherige Auszahlung einer neuen Tranche aus dem im August 2015 vereinbarten dritten “Rettungspaket” nicht aufbringen können, und wenn den Äußerungen der letzten Wochen Glauben zu schenken ist, ist die Gläubigerseite mit dem bisherigen Stand der griechischen “Reformbemühungen” nicht sonderlich zufrieden. Es könnte also im Vorfeld der Rückzahlungs-Deadlines durchaus zu einer erneuten Zuspitzung des Konflikts kommen.

Doch einen offenen Streit wie vor einem Jahr kann sich eigentlich kaum jemand erlauben. Der Eindruck eines “europäischen Chaos” würde den AusstiegsbefürworterInnen in Großbritannien möglicherweise den entscheidenden Schub geben, und auch für die spanischen Wahlen bliebe dies nicht ohne Folgen; hier würde mutmaßlich die neue Linkspartei Podemos profitieren. Somit sollten sowohl Berlin und Brüssel als auch London und die noch-Regierung in Madrid an einer möglichst geräuscharmen Einigung der Kreditgeber mit der griechischen Regierung hinter den Kulissen interessiert sein.

Neue Runde im Euro-Pokerspiel

Als Bedingung für seine weitere Beteiligung verlangt der IWF, dass es Schuldenerleichterungen geben muss, da seine Statuten eine Kreditvergabe an überschuldete Länder nicht erlauben - dies wurde bei den bisherigen “Rettungspaketen” sehr großzügig ausgelegt, zum Missfallen der Schwellenländer. Diese Position wird von London, Now York und Athen geteilt, von der deutschen Regierung hingegen abgelehnt - allerdings mit der dehnbaren Formulierung, dies stehe “jetzt gerade nicht im Vordergrund” und sei “für die nächsten Jahre nicht notwendig”. Einen expliziten Schuldenschnitt lehnt Minister Schäuble weiterhin vehement ab; dieser wird jedoch auch vom IWF angesichts der auf Jahre hinaus sehr geringen Zins- und Tilgungslast nicht (mehr) gefordert.

Am Ende dürfte der “Zuchtmeister Europas” den GriechInnen und dem IWF Zugeständnisse machen, da er nicht als der Schuldige am “Brexit” dastehen möchte. Allerdings wird es diese nicht umsonst geben: Wolfgang Schäuble hat es bei den Euro-Verhandlungen der letzten Jahre wiederholt gezeigt, dass er knallhart pokert und sich seine notwendige Zustimmung zu (in Deutschland unpopulären) Stabilisierungsmaßnahmen wie den Stützungskäufen der EZB teuer bezahlen lässt. Im Gegenzug mussten die Staaten Europas sich immer mehr Überwachung und Bevormundung ihrer Politik durch die europäischen Institutionen gefallen lassen, was erzwungene Kürzungen bedeutete und die Popularität der EU nicht eben gesteigert hat. Steht jetzt also die nächste Runde in diesem Ringkampf an, dieses Mal eher leise und im Hinterzimmer als öffentlich polternd? Es sieht ganz danach aus.

Welche Seite hat dieses Mal die besseren Karten? Hat nicht Großbritannien bei einem Austritt viel mehr zu verlieren als Kontinentaleuropa, gerade auf wirtschaftlichem Gebiet? Immerhin haben eine Reihe von Großbanken schon angekündigt, in diesem Fall nach Paris oder Frankfurt umzuziehen, und selbst wenn etwas Bluff dabeisein sollte, ist doch für die Londoner City die Zugehörigkeit zur EU sicherlich ein wichtiger Geschäftsfaktor. Auch politisch würde London bei einem Ausscheiden nicht nur an Einfluss auf die Politik und weitere Entwicklung der Union verlieren, sondern als relativ kleiner Staat mittelfristig auch auf der globalen Bühne eine geringere Rolle spielen. Könnte sich Berlin da nicht zurücklehnen im Wissen, dass sich politische wie ökonomische Vor- und Nachteile ungefähr die Waage halten dürften, und die eigene Macht in Europa eher noch gestärkt würde?

Schäuble dank Wahltermin in der Defensive

Hier kommen die spanischen Parlamentswahlen ins Spiel. Bei diesen haben in erster Linie die dortigen Konservativen, in zweiter aber auch die deutsche Regierung etwas zu verlieren. Dem möglichen “Brexit” könnten Schäuble und Co. zwar gelassen entgegensehen, doch ein Wahlsieg von Podemos und PSOE (Sozialdemokraten) würde die weitere Durchsetzung ihrer Eurozonenpolitik wohl deutlich erschweren. Den dann drei Linksregierungen in Athen, Lissabon und Madrid könnten sich die Sozialdemokraten in Rom und Paris anschließen und gemeinsam weitere “Diktate” Berlins so gut wie unmöglich machen. Um dieses Szenario zu verhindern, dürfte die deutsche Regierung in den kommenden Monaten tatsächlich substan- ziellen Abschwächungen der bisherigen Austeritätspolitik zustimmen - und nichts Anderes dürfte auch das Ziel der Taktierer in London und Madrid gewesen sein.

Die Briten lehnen ebenso wie der IWF Schäubles Kürzungswahn ab: Zum Einen weil dieser Europa in der wirtschaftlichen Rezession gefangenhält, zum Anderen aber wohl auch aufgrund der anhaltend hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, die Berlin geschickt als politisches Machtinstrument einzusetzen versteht. Wenn es gelänge, trotz der “zu langsamen” Kürzungspolitik Athens dennoch neue Schuldenerleichterungen auszuhandeln, wäre das ein wichtiges Signal der Aufweichung des deutschen Austeritätsdogmas. Sicher, ein Durchbruch wäre damit noch nicht erreicht, und der Ausgang dieses Kampfes ist keineswegs entschieden - doch je mehr offenen Widerstand es gibt, desto mehr gerät der “eiserne Minister” in die Defensive. Und desto mehr Hoffnung gibt es für die Menschen in Europa.

Ablenkung von globalen Entwicklungen

Am Rande sei noch ein weiterer Aspekt erwähnt, der in der hiesigen eurozentrischen Debatte wieder einmal wenig Beachtung finden dürfte: Parallel zum “Brexit”-Referundum findet in Taschkent der diesjährige Gipfel der SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) statt. Von diesem dürften wichtige Impulse ausgehen für das weitere Zusammenwachsen Eurasiens, insbesondere was den Ausbau der Infrastruktur, die Währungskooperation sowie möglicherweise die Stabilisierung Afghanistans angeht. Auch das Verhältnis zum Iran, die mögliche Anwesenheit neuer Beobachterstaaten sowie Absprachen vor der anstehenden Wahl einer/s neuen UN-GeneralsekretärIn wären es wert, genauer diskutiert und analysiert zu werden.

Doch wird davon vor lauter Aufregung über die Abstimmungen in Großbritannien und Spanien wohl kaum jemand in Europa etwas mitbekommen. Angesichts der Bemühungen, die (nicht mehr so) neuen Bündnisprozesse außerhalb der NATO aus dem Blickfeld der westlichen Öffentlichkeit herauszuhalten, könnte auch das bei der Wahl der Termine eine Rolle gespielt haben.

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Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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