Irgendwie Demokratie

Iran Die Wahlen zu Parlament und Expertenrat entsprachen sicher nicht westlichen Vorstellungen von Demokratie. Aber wie grundlegend anders ist unser politisches System?

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Am verganenen Freitag waren 55 Millionen IranerInnen zur Wahl aufgerufen, und auch wenn erst die Stichwahlen im April Klarheit über die kommenden Mehrheitsverhältnisse unter den 290 ParlamentarierInnen bringen werden, so ist doch die Tendenz klar: Die dem Präsidenten nahestehenden “ReformerInnen” haben deutlich dazugewonnen, die konservativen “Prinzipientreuen” hingegen Sitze verloren. In der Hauptstadt Teheran stellen die Konservativen künftig nur noch einen von 32 Abgeordneten, und in vielen anderen Städten und Regionen zeigt sich ein ähnliches Bild. Damit ist Hassan Rouhani in seinem Kurs der Diplomatie und Öffnung des Landes, der nach dem epochalen “Atomabkommen” vom Juli 2015 zur Aufhebung der meisten internationalen Sanktionen Mitte Januar und daraufhin zum Abschluss wichtiger Wirtschaftsverträge geführt hat, gestärkt worden. Ohne Frage ein wichtiger Sieg für die gemäßigten Kräfte des Landes.

Doch was bedeutet im iranischen Kontext ‘gemäßigt’? Beim Versuch dies einzuschätzen ist ein Blick auf das politische System des Landes aufschlussreich. Es hatten sich etwa 12.000 KandidatInnen für die Wahl zur “Beratenden Versammlung” (Parlament) gemeldet, doch schafften es von diesen letzten Endes nur gut 6.200 auf die Stimmzettel. Der Rest fiel größtenteils der berüchtigten Überprüfung durch den Wächterrat zum Opfer. Dessen Aufgabe ist es, vor jeder landesweiten Wahl eine Vorauswahl zu treffen und diejenigen AspirantInnen auszuschließen, bei denen aus seiner Sicht Zweifel an der Identifikation mit der “richtigen” Interpretation der islamischen Verfassung bestehen.

Wechselseitige Kontrolle von weltlicher und religiöser Macht

Von den zwölf Mitgliedern dieses mächtigen Gremiums werden sechs Islamgelehrte vom Obersten Religionsführer direkt eingesetzt, die anderen sechs hingegen vom Parlament gewählt - aus einer Anzahl vom Obersten Rechtsgelehrten vorgeschlagener Juristen. In gewisser Weise entspricht der Wächterrat einem Zwitter aus Verfassungsgericht und zweiter Parlamentskammer und soll insbesondere verhindern, dass sich durch eine Wahl der grundlegende Charakter der ‘Islamischen Republik’ ändern könnte. Neben dem erwähnten Vetorecht bei der Aufstellung von Kandidatenlisten geschieht dies auch im legislativen Rahmen: Das nicht ohne Grund “Beratende Versammlung” genannte Parlament debattiert und beschließt zwar Gesetzesvorhaben, doch müssen diese anschließend vom Wächterrat bestätigt werden, um Gültigkeit zu erlangen.

Währenddessen bleibt dem 88-köpfigen Expertenrat die ehrenvollste Aufgabe vorbehalten: Die Wahl eines neuen Religionsführers. Ayatollah Ali Chamene’i ist 76 Jahre alt, und es gilt als wahrscheinlich, dass der nun für acht Jahre neugewählte Rat sich mit der Auswahl eines Nachfolgers wird befassen müssen. Hier sind die “Reformer” trotz deutlicher Zugewinne weiterhin in der Minderheit, doch würde jeder Versuch sie zu übergehen äußerst schwierig.

Der Iran besitzt damit gewissermaßen ein duales Regierungs- system, in dem sich die eher weltlichen, gewählten Institutionen Präsident, Parlament und Expertenrat und die eher geistlichen, ernannten (Religionsführer, Wächterrat) gegenseitig kontrollieren und in ihrer Macht begrenzen. Die “geistliche Gewalt” überlässt dabei der weltlichen weitestgehend des politische Tagesgeschäft, mischt sich jedoch regelmäßig in die öffentliche Debatte ein und wacht darüber, dass deren Entscheidungen niemals den ideologischen Grundlagen des Staates widersprechen.

Ist das wirklich ‘demokratisch’?

Mit Sicherheit nicht, zumindest nicht im strengen Wortsinn.

Die spannendere Frage lautet jedoch: Unterscheidet es sich wirklich grundsätzlich von der ‘liberalen Demokratie’ westlicher Prägung? Sicher, es gibt in europäischen Regierungssystemen weder einen ‘Obersten Religionsführer’ noch einen ‘Wächterrat’, und theoretisch kann sich jede Person zur Wahl stellen, die gewisse formale Kriterien erfüllt und nicht als verfassungs- feindlich angesehen wird. Doch tatsächlich gibt es auch in der “Freien Welt” eine Reihe weiterer Filter, die jedeR KandidatIn durchlaufen muss.

Während in Europa die Parteiapparate eine zentrale Rolle bei deren Aufstellung spielen, sind diese in den USA deutlich schwächer und stellt die Fähigkeit zur Mobilisierung von (finanzkräftigen) UnterstützerInnen dort das wohl wichtigste Erfolgskriterium dar. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ökonomische Interessen auf europäische Wahlen keinen Einfluss nähmen: Ebenso wie jenseits des Atlantiks ist auch hier ein Aufstieg gegen den Widerstand der (privaten) Medien und wichtiger Lobbyverbände fast unmöglich. Somit sichern sich die “Eliten” stets ein Mitsprache-, wenn nicht gar Vetorecht bei der Auswahl politischer VertreterInnen. Wen sie dabei bevorzugen, sollte klar sein: Diejenigen, von denen sie kein Antasten ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Privilegien erwarten. Denn als NutznießerInnen des Systems verlangen sie selbstverständ- lich auch dessen Bewahrung.

Der Schutz des status quo vor der Demokratie

So betrachtet erscheint der Unterschied zwischen ‘liberaler’ und ‘islamischer’ Demokratie plötzlich gar nicht mehr so fundamental: Beide bedienen sich eines Systems von Filtern, um geeignetes potentielles Führungspersonal von ungeeignetem zu unterscheiden. Bei beiden zielt dieses Verfahren darauf, grundlegende Charakteristika von Staat und Gesellschaft unabhängig von regelmäßigen Machtwechseln durch Wahlen zu garantieren und zu bewahren. In den westlich orientierten Staaten ist das grundlegendste Merkmal dabei die liberal-kapitalistische Ordnung mit ihrer herausragenden Stellung des Privateigentums, im schiitischen Iran hingegen das islamische Recht und eine aus dem Koran abgeleitete Gesellschaftsordnung. Jedes System schützt mithin vor den Unwägbarkeiten demokratischer Wahlen, was als konstitutiv für das eigene Weiterbestehen angesehen wird.

Das führt unmittelbar zur Frage, was genau dann noch unter der vielbeschworenen ‘Demokratie’ verstanden wird. Wenn diese definiert wird als ein System, in dem unterschiedliche Fraktionen innerhalb der Eliten nach festgeschriebenem, gewaltfreiem Verfahren regelmäßig um die Lenkung des Staates konkurrieren und somit im Falle grober Fehlleistungen ausgewechselt werden können, dann ist der Iran ebenso ‘demokratisch’ wie jeder europäische Staat. Wer höhere Ansprüche an die “Herrschaft des Volkes” stellt, wird sich damit schwerlich zufriedengeben, sollte jedoch so ehrlich sein, neben der ‘islamischen’ auch die ‘liberale’ Demokratie im Hinblick auf die Erfüllung der eigenen Ansprüche zu hinterfragen.

Es ließe sich sogar argumentieren, dass die geistliche Hierarchie des Iran vermittels der Wahl des Expertenrats zumindest indirekt durch die Bevölkerung legitimiert ist, was bei den ökonomischen Eliten in unseren Breiten nicht der Fall ist. Zwar wissen wir selbstverständlich Alle, dass diese ihre gesellschaft- liche Position und damit ihren Einfluss ausnahmslos der eigenen Tüchtigkeit zu verdanken haben, aber wirklich transparent sind die damit zusammenhängenden Vorgänge nicht. Und ihre Abwahl ist - bislang - in unserem System nicht vorgesehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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