Zeit für ein alternatives Wahlprogramm

SPD Die ‘Alte Dame’ präsentiert viele gute Ansätze – traut sich aber nicht, diese eingängig zu vermitteln. Wann kommt die fällige Modernisierung?

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Quo vadis?
Quo vadis?

Foto: Clemens Bilan/AFP/Getty Images

Zunächst sollte dieser Beitrag ‘Mehr Populismus wagen!’ heißen - aber nein, sowas gehört sich natürlich nicht, das wäre anrüchig oder Schlimmeres. Warum eigentlich? ‘Populismus’ heißt Vereinfachung, Pauschalisierung, dem Pöbel nach dem Mund reden, oft auch Personalisierung. Oftmals sind ‘populistische’ Äußerungen nicht viel mehr als Lügen, denen Teile der (Wahl-)Bevölkerung auf dem Bauch heraus gerne zustimmen. Dass die implizierten Versprechen unhaltbar sind, interessiert da genausowenig wie offene Widersprüche zu sonstigen Aussagen und Handlungen.

Aber kann es nicht auch einen ‘positiven’, inhaltlich unterfütterten Populismus geben - oder etwas in dieser Richtung, was einen anderen Namen trägt? Dürfen politische Ansagen und Versprechen, zumal in Wahlkampfzeiten, nicht durchaus zuspitzend, schlicht und auch mal vereinfachend sein - solange sie sich herleiten und begründen lassen, und solange sie nicht im Widerspruch zu den detaillierteren Positionen des Wahlprogramms stehen? Wieviele (potentielle) Wähler*innen lesen sich diese 100 Seiten wirklich durch? Warum sollten nicht denen, die es nicht tun, die Kernthemen in plakativer, ihrer Lebensrealität und Alltagssprache entsprechender Form nahegebracht werden?

In ihrem ‘Regierungsprogramm’ für die bevorstehende Wahl setzt die SPD viele richtige Schwerpunkte und formuliert sinnvolle Einzelforderungen und -projekte, sei es beim Thema ‘Familie’, ‘öffentliche Investitionen’, ‘Wohnraum’ oder ‘Europa’. Im öffentlichen Auftritt dominieren jedoch Plakate, Fernsehspots und Aussagen, die auf Emotionen setzen und die Person des Spitzenkandidaten ins Zentrum rücken. Anscheinend herrscht die Auffassung vor, dass ein ‘erfolgreicher Wahlkampf’ genau so aussehen müsse, und dass inhaltliche Debatten die meisten Menschen überforderten. Ist das tatsächlich so - oder ist nicht vielmehr ein erheblicher Teil der Bevölkerung davon nur noch gelangweilt? Und zeigen nicht die Erfahrungen von Corbyn und Sanders genau das Gegenteil?

Die ‘Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts’: Klarer Stil, neue Inhalte

Die Wirtschaftsdaten und damit die soziale Lage der Unter- und Mittelschicht mögen hierzulande (noch) deutlich besser sein als in Großbritannien und den USA, doch gibt es keine Garantie dafür, dass das so bleibt. Schon heute könnte die SPD Einiges von den dortigen ‘Schwesterparteien’ lernen - und wenn sie jemals wieder stärkste Partei werden möchte, dann muss sie das sogar. Die ‘Alte Dame’ hat bisher eine ernsthafte Modernisierung vermieden, sowohl inhaltlich als auch in ihrem Politikstil. Aber das traditionelle, gewerkschaftsnahe Wähler*innenreservoir wird immer kleiner, und um dauerhaft andere Milieus an sich zu binden, muss die Partei sich neu erfinden und eine ‘Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts’ entwickeln.

Den Anfang hätte sie dieses Jahr machen können, aber offenbar braucht es dazu noch eine weitere deutliche Niederlage gegen die Union. Die Themen sind die richtigen - also warum nicht mit diesen direkt und plakativ Wahlkampf machen? Warum verspricht die SPD nicht auf ihren Plakaten ‘Eine Million öffentliche Wohnungen!’, ‘Mindestlohn 12 Euro!’, ‘ÖPNV, Kitas und WLAN kostenlos für Alle!’ oder ‘Europäische Verfassung 2025!’ ? Das würde breit öffentlich wahrgenommen und löste kontroverse Diskussionen aus, denen sich die anderen Parteien kaum entziehen könnten.

Natürlich würden die Genoss*innen für solche Provokationen von der Konkurrenz und Teilen der Medienlandschaft in der Luft zerrissen - ‘unbezahlbar’, ‘zerstört den Markt’, ‘unseriös’, ‘nicht wählbar’...und natürlich: ‘Populismus!’. Aber muss der Partei das schaden? Selbst wenn sich nachher manches nicht zu 100 Prozent umsetzen ließe, hätte sie damit dem gesellschaftlichen Diskurs ihre Stempel aufgedrückt. Die Labour Party unter Corbyn galt medial solange als ‘unwählbar’, bis sie bei den Wahlen im Juni ein mehr als respektables Ergebnis erzielt und Theresa May die sicher geglaubte absolute Mehrheit entrissen hat. Mangelnde Vergleichbarkeit aufgrund der deutschen Konsenskultur hin oder her - auf mittlere Sicht kann die Partei, die erfolgreich zentrale Themen (be)setzt und so die Konkurrenz vor sich hertreibt, nur gewinnen.

Kann die SPD alte und neue Linke zusammenführen?

Doch es geht keineswegs nur um Stil und Vermittlung. Die klassischen Forderungen der Arbeiterbewegung immer wieder leicht umzuformulieren reicht heute nicht mehr aus, um das ganze Spektrum der gesellschaftlichen Linken anzusprechen. Vielmehr gibt es eine zunehmende Kluft zwischen ‘Alten’ und ‘Neuen’ sozialen Bewegungen: Erstere streben weiterhin nach Vollbeschäftigung mit Vollzeit-Jobs, steigenden Löhnen sowie einem darauf basierenden System der sozialen Sicherung.

Das jedoch setzt dauerhaftes Wachstum voraus, und hier kommen sie in Konflikt mit den ‘Neuen’, die die ökologischen Grenzen ins Bewusstsein rufen. Zwar wollen sie ebenfalls soziale Absicherung, jedoch im Sinne eines ‘Guten Lebens für Alle’, mit Fokus auf persönlicher Entfaltung und realen menschlichen Bedürfnissen. Allgemeine (Erwerbs)arbeit ist dazu nicht nötig, und schon gar nicht in Vollzeit. Zentral ist für sie die Versöhnung von Ökologie und Sozialem, also die Bereitstellung des gesellschaftlich Notwendigen mit minimalem Ressourcen- und Naturverbrauch.

Diese zwar nicht gegensätzlichen, aber deutlich auseinanderklaffenden ideologischen Strömungen miteinander zu versöhnen ist keine leichte Aufgabe - aber der SPD bleibt angesichts ihres strukturellen Wählerschwunds keine andere Wahl, als es zu versuchen. Dazu wird sie ihre teils übertriebene Nähe zu den Gewerkschaften ebenso überdenken müssen wie manche langgehegte politische Position. An der intensiven Beschäftigung mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) oder einer anderen Form des ‘Guten Lebens mit und ohne Arbeit’ führt kein Weg vorbei.

‘Ökologie’ muss sie endlich als ‘hartes’ politisches Thema begreifen, auf einer Ebene mit Finanzen oder Innerem. Konkret bedeutet das nicht zuletzt, dass bio-Landwirtschaft, fleischarme Ernährung und ‘teilen statt besitzen’ zum Normalfall werden - Privat-PKW, riesige Häuser und Wohnungen sowie Flugreisen hingegen zur absoluten Ausnahme. Und nicht zuletzt sollte die Partei sich Gedanken über die Weiterentwicklung des demokratischen System machen: ‘Alle vier Jahre ein Kreuz’ ist anachronistisch, dank Internet haben wir heute ganz andere Möglichkeiten als im 19. Jahrhundert.

Ob die ‘Alte Dame’ dieser Aufgabe gewachsen ist und sich generalüberholen kann, wird sich zeigen. Ihre Positionen Twitter-tauglich zuzuspitzen und dabei keine Angst vor simplen Botschaften zu haben, sollte jedoch nicht zu viel verlangt sein. Und wenn das Manche als ‘Populismus’ brandmarken wollen, sollen sie es tun - solange die Inhalte sich gut begründen lassen und bei der ‘normalen’ Bevölkerung ankommen, kann ihr die dadurch ausgelöste Debatte nur nützen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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