Günther Grass und das politische Gedicht

Lyrik 85-jährig ist Günther Grass nicht mehr nur der Autor der Blechtrommel, er ist auch der Verfasser von "Was gesagt werden muss". Er hätte besser einen Sachtext verfasst.

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Kunst zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass seine Aussage nicht eindeutig ist, dass eine Vielschichtigkeit gegeben ist, die es dem Rezipienten ermöglicht, sich von dem Kunstwerk, vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen, gewissermaßen ein eigenes "Bild" zu machen.

Das Bundesverfassungsgericht, welches aufgrund des Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz gezwungen ist, sich auch mit der Frage nach einem Kunstbegriffes auseinanderzusetzen, greift diesen Gedanken in einem Beschluss aus dem Jahr 1984 (BverfGE 67, 213) auf Seite 226 auf:

Auch wenn man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin sieht, daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt (vgl. von Noorden, a.a.O., S. 82 ff.), ist dieses Merkmal (...) erfüllt.

Mit dieser Eigenschaft unterscheidet sich Kunst, unterscheidet sich ein künstlerischer Text von Sachtexten, insbesondere von wissenschaftlichen Texten. Letztere verfehlen ihren Zweck geradezu, wenn ihre Aussage nicht eindeutig ist, wenn sich nicht ermitteln lässt, was genau der Autor sagen, wie er sich innerhalb eines bestimmten Diskurses positionieren will.

Vor diesem Hintergrund wirkt ein politisches Gedichte vom Ansatz her unstimmig, jedenfalls dann, wenn es das Ziel verfolgt, innerhalb eines politischen Diskurses eindeutig Stellung zu beziehen. Es stellt sich dann die Frage: "warum ein Gedicht, warum kein Sachtext?" Mit "Was gesagt werden muss" hat Günther Grass versucht, eindeutig Stellung zu beziehen, dass ergibt sich schon aus dem Titel des Gedichts.

Ein Sachtext wäre besser gewesen

Günther Grass hätte besser einen Sachtext geschrieben. Wenn ein bekannter Intellektueller sich zu einem politischen Thema äußerst, welches ohne Übertreibung als Mienenfeld bezeichnet werden kann, dann will die Öffentlichkeit genau wissen: "was sagt er, wie positioniert er sich?"

Dieses Bedürfnis hätte Günther Grass mit einem Sachtext besser befriedigen können. Er hätte sich überdies besser vor Missverständnissen schützen können, vor ihm ungerecht erscheinender Kritik von der einen, vor Instrumentalisierung von der anderen Seite.

Wie unglücklich das Unterfangen des politischen Gedichtes tatsächlich war, zeigte sich, als Günther Grass nach tagelanger medialer Kritik einräumte, er hätte in dem Gedicht statt pauschal von "Israel" besser von der "gegenwärtigen israelischen Regierung" sprechen sollen. In diesem Moment reduzierte der Autor selbst sein Gedicht allein auf den Inhalt, die Frage: "warum ein Gedicht, warum kein Sachtext?" drängte sich förmlich auf.


Man stelle sich nur mal vor, Paul Celan hätte nach Veröffentlichung der "Todesfuge" und nach einer längeren Debatte eingeräumt, er hätte statt "Margarete" besser den Namen "Stefanie" verwendet, statt "Sulamith" besser den Namen "Ruth", warum auch immer...
Normalerweise entzieht sich ein Gedicht derartiger Kritik, es bietet normalerweise gar keine Angriffsfläche, dafür ist es in seiner Aussage gar nicht konkret genug.

Um nochmal auf das Bundesverfassungsgericht zurückzukommen: Man muss sich nach dem Gesagten zum Glück keine Sorgen machen, dass das Gericht dem Gedicht "Was gesagt werden muss" die Einordnung als Kunst versagen würde. Es kennt nämlich neben dem sog offenen Kunstbegriff, der bereits dargestellt wurde, auch den sogenannten formalen Kunstbegriff. So heißt es in der bereits zitierten Entscheidung auf Seite 225:

Sieht man das Wesentliche eines Kunstwerkes darin, daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind, legt man also einen eher formalen Kunstbegriff zugrunde, der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft (vgl. Müller, a.a.O., insbes. S. 41 f.; Knies, a.a.O., S. 219), so kann (...) die Kunstwerkeigenschaft ebenfalls nicht abgesprochen werden.


Damit ist deutlich: Kunst ist das Gedicht ohne Zweifel. Es wäre aber vielleicht besser gewesen, wenn der Künstler Günther Grass für den Moment die Pfade der Kunst verlassen hätte.

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