Der Mensch, das relative Wesen

Religionen Religionen und andere esoterische Lehren versprechen den Menschen gerne das Absolute. Dabei verkennen sie, dass der Mensch ein relatives Wesen ist

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Religionen und andere esoterische Lehren versprechen den Menschen gerne das Absolute. Ewiges Leben statt Sterblichkeit, unendliche Weisheit statt ständigen Irrtums, uneingeschränktes Glück statt gefühlsmäßiger Hochs und Tiefs.

Vor Jahren hat man mir an der Haustür mal einen „Wachturm“ in die Hand gedrückt, die Zeitschrift der Zeugen Jehovas. Darauf war eine Szene abgebildet, die direkt aus dem Paradies zu stammen schien. Menschen jedes Alters, jeder Herkunft, reichten sich lächelnd die Hände, die Sonne strahlte, eine Quelle sprudelte, selbst wilde Tiere fügten sich nahtlos ein in diese allgemeine Glückseligkeit.

Ich hätte kotzen können!

Aber warum habe ich mich geekelt? Warum hat mich nicht im Gegenteil diese Abbildung angezogen, gleich in die Arme der Zeugen Jehovas?

Wenn man mal von möglicherweise vorhandenen Wunschvorstellungen absieht und auf sein eigenes Leben schaut, dann wird – ich erlaube mir an dieser Stelle, von mir auf andere zu schließen – schnell klar, dass das Absolute, welches die Religionen und anderen esoterischen Lehren versprechen, so gut wie nicht vorkommt. Der Mensch ist in diesem Sinne kein absolutes Wesen, er ist vielmehr ein relatives Wesen. Phasen des Glücks wechseln sich mit Phasen des Unglücks ab, Irrtum folgt auf Erkenntnis, Krankheit auf Gesundheit. Das Glück ist ohne das Unglück gar nicht vorstellbar, die Erkenntnis nicht ohne den Irrtum, Gesundheit nicht ohne Krankheit. Die gesamte Selbstwahrnehmung des Menschen ist eine relative.

Hat er Grippe, dann nimmt er sich als krank wahr, denn er weiß, dass er normalerweise keine Grippe hat, dass es sich um einen Ausnahmezustand handelt, in dem er sich schlecht fühlt. Und wenn er dann wieder gesund ist, dann ist er glücklich, wenn er das erste Mal nach der Krankheit wieder Sport macht, dann genießt er die zurückgekehrten Kräfte. Mit der Zeit gewöhnt er sich dann aber an die Gesundheit, die Gesundheit allein kann keine Glücksgefühle mehr bieten. Aber dann verliebt er sich vielleicht neu und frisch, was für ein euphorisierendes Gefühl, gerade deswegen, weil es neu und frisch ist. Mit der Zeit tritt Gewöhnung ein und dann kauft er sich vielleicht einen Flachbildfernseher, das ist schön, denn vorher hatte er noch keinen.

Das Streben nach dauerhaftem Glück, nach irgendeinem absoluten Zustand, ist also von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Derart absolute Zustände sind dem Menschen schlicht nicht vergönnt, sie sind – ich bitte die schicksalhafte Ausdrucksweise zu entschuldigen – für den Menschen schlicht nicht vorgesehen.

Ich kenne keine Stelle in der Literatur, in der dies besser gesagt wird als im Prolog im Himmel in Goethes Faust. Dort unterhalten sich Der Herr und Mephistopheles über Faust und, bezogen eben auf Faust, sagt Der Herr:

„Es irrt der Mensch so lang er strebt“.

Der Irrtum ist nach dieser Aussage ständiger Begleiter des Menschen. Dieses im Hinterkopf zu haben, sich seiner eigenen Mangelhaftigkeit, seiner eigenen Relativität bewusst zu sein, kann ich nur empfehlen. Es macht das Leben entspannter und es hilft auch, Kriege zu verhindern.

Irgendjemand hat mal, möglicherweise in einem kurzen Moment der Klarheit, gesagt:

„Wenn dir jemand begegnet der behauptet, die Wahrheit zu haben, dann renn um dein Leben.“

Ach ja, und am Ende des Faust sagt ein Engel:

„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

Erlösen? Seufz...

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