"Du kennst mich doch gar nicht!"

Online-Foren Diskussionen in Online-Foren enden schnell in wüsten Beschimpfungen. Das ist aber nicht nur ein Problem. Online-Foren sind gute Schulen für mehr Toleranz.

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Zeigen die Menschen im Internet ihren wahren Charakter? Lassen sie ihre sonst nur mühsam unterdrückten Aggressionen raus, wenn sie sich in Diskussionsforen gegenseitig beschimpfen?

Es wäre schlimm, wenn man diese Frage mit „ja“ beantworten müsste. Das würde wirklich ein schlechtes Bild auf die Menschen werfen.

Die Beschimpfungen, denen man im Internet ausgesetzt ist, sind nicht nur viel härter als im realen Leben, sie sind auch deutlich weniger fundiert. Das Argument „du kennst mich doch gar nicht“ ist hier angebrachter als überall sonst.

Dabei scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem Ausmaß der Beschimpfungen und der Tatsache, dass man seinen Gegenüber nicht kennt, ja dass man in den meisten Fällen gar nichts über ihn weiß.

Die einzige Information, die man von seinem Gegenüber meistens hat, ist das, was er schreibt. Erscheint einem dies dumm, abwegig und selbstgefällig, so erscheint einem auch der dahinter stehende Mensch dumm, abwegig und selbstgefällig. Wie sollte es auch anders sein? Die dumme, abwegige und selbstgefällige Äußerung ist ja das einzige, was man zur Verfügung hat, um sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen. Und was soll man schon von dummen, abwegigen und selbstgefälligen Menschen halten. Sich gegenseitig den Tod zu wünschen oder jedenfalls eine schwere Krankheit liegt dann vielleicht gar nicht mehr so fern.

Meistens bleiben diese Online-Diskussionen in der virtuellen Welt und Zusammentreffen in der realen Welt findet nicht statt. Dies könnte man begrüßen, denn es wäre ja vielleicht auch viel zu gefährlich, wenn sie diejenigen, die sich online den Tod gewünscht haben, real treffen würden. Würden die sich dann nicht sofort an die Gurgel gehen?

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wäre ein solches reales Treffen sogar von einer ziemlich heilsamen Wirkung. Man hätte die Gelegenheit festzustellen, dass der, der sich da so vermeintlich dumm und selbstgefällig geäußert hat, eigentlich ein ganz sympathischer Typ ist. Das er ein nettes Lächeln hat, dass man sich sogar vorstellen kann, mit ihm mal einen trinken zu gehen. Die Aussage im Online-Forum, die man zwar vielleicht immer noch nicht teilt, verliert dann ganz entscheidend an Bedeutung, eben weil man jetzt zusätzliche Informationen hat, die ein realistischeres und positiveres Bild ermöglichen.

Wahrscheinlich wäre es aber noch nicht einmal erforderlich, dass einem der Mensch, den man nach einem wüsten Online-Streit real trifft, sympathisch ist. Wahrscheinlich würde es ganz und gar ausreichen, dass mal durch das reale Treffen bloß realisiert, dass man einen leibhaftigen Menschen vor sich hat, mit tatsächlichen Gefühlen, der es allein schon deswegen eigentlich nicht verdient hat, so wüst beschimpft zu werden.

Die beschriebene Problematik in Online-Foren ist nicht ohne Beispiel auch in der realen Welt. Ein gutes Beispiel ist der Straßenverkehr. Es gibt wahrscheinlich wenig Bereiche im realen Leben, in denen so viel beleidigt wird, wie eben dort, auch wenn ein Großteil der Beleidigungen zum Glück von dem Adressaten nicht vernommen werden. Der Grund scheint hier derselbe zu sein wie in Online-Foren. Auch im Straßenverkehr hat man die reale Person nicht wirklich vor sich. Man hat lediglich einen schemenhaft sichtbaren Autofahrer, der an der grün gewordenen Ampel nicht losfährt oder der einem den Weg abschneidet. Und dann reduziert man die Person eben auf diese dumme, ungeschickte Aktion und berücksichtigt nicht, dass zum Beispiel besondere Umstände vorliegen könnten, die ein gedankliches Abschweifen an der Ampel mehr als verständlich erscheinen lassen.

Zurück zum Online-Forum. Aufgrund des Mangels an Informationen über seinen Gegenüber und aufgrund der damit einhergehenden Überhöhung der Informationen, die vorliegen, ist es auch ziemlich einfach möglich, eine Diskussion in gewisser Weise zu manipulieren. Der Verfasser hat jüngst die Erfahrung gemacht, dass auch eine eigentlich ziemlich konfliktträchtige Diskussion dadurch gänzlich entschärft werden kann, wenn man an das Ende eines jeden Beitrags seinem gegenüber „viele Grüße“ ausrichtet. Nur durch diese zwei Wörter, wie ernst sie auch immer gemeint sind, signalisiert man seinem Gegenüber: „Ich bin nett, ich bin auf deiner Seite, ich mag dich, auch wenn wir vielleicht nicht immer einer Meinung sind“.

Diese Taktik erinnert stark an die sog. Smileys, die in der Welt der Kurznachrichten um sich gegriffen haben. Sie bewirken das gleiche. Setzt man hinter den einen oder anderen Satz einen Smiley, dann kann man sich relativ sicher sein, dass die Kurznachricht für positive Emotionen sorgt. Die Gefahr, dass der Umstand, dass man sich nicht gegenüber steht, zu Missverständnissen und bösem Blut führen könnte, ist so gut wie gebannt.

Diesen Effekt machen sich auch große Firmen zu nutze, in dem sich sich angewöhnt haben, interne E-Mails immer mit „Lieber Herr Meier“ oder „Liebe Frau Müller“ zu beginnen. Das schreibt so die Vorstandsvorsitzende an den einfachen Angestellten und der einfache Angestellte an die Vorstandsvorsitzende. Wie kurz und trocken dann auch immer die E-Mail ausfällt, für gute Stimmung ist erst mal gesorgt.

Natürlich funktioniert das nicht immer und natürlich liegt hier auch keine Lösung für die Probleme in Online-Foren. Aufgrund des Mangels an Informationen machen Online-Foren eine größere Disziplin, eine größere Toleranz erforderlich. Man kann aufgrund dessen Online-Foren kritisieren und sich im Vergleich zu realen Begegnungen als minderwertig einstufen. Man kann darin aber auch eine Chance sehen. Während man sich im realen Leben ohnehin meist nur mit denjenigen trifft, mit denen man auch irgendwie auf einer Wellenlänge liegt, ist man in Online-Foren viel mehr auf Fragen der Toleranz, auf die Frage, wie sehr stelle ich mich und meine Meinung in den Mittelpunkt, auf die Frage, wie sehr kann ich mich in meinen Gegenüber hineinversetzen, zurückgeworfen. Die Beschäftigung mit diesen Themen kann nur positiv wirken und ist in einer auch real globalisierten Welt immer wichtiger. Mans sollte Online-Foren also nicht verteufeln und man sollte sie auch nicht verlassen. Man sollte sie als Chance begreifen, sich im Bezug auf Toleranz weiter zu entwickeln.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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